Kring 01, 07. Kapitel, Seite 60

 

 
   
 

 


Aber unbarmherzig ist das Gesetz nicht. Vollkommene Gerechtigkeit kann nicht unbarmherzig sein. Sie wäre sonst keine Gerechtigkeit. Wo du etwas wegnimmst, musst du wieder etwas dazugeben. Du musst Ausgleich herstellen. Echte und tiefe Reue kann das, denn dann stellst du dich dir selbst und dem was du tatest. Aber leben wirst du damit müssen, bis die Tilgung vollständig ist. Das Maß dazu hast du selber gesetzt: Vernichtung! Ob unbedacht oder vorsätzlich ist gleichgültig. Nur wenn du dein eigenes Leben vor unmittelbarer Vernichtung bewahren willst, darfst du anderes auslöschen. Aber auch nur dasjenige, das nach deinem Leben trachtet. Ich tat das nicht! Und unten auf dem Platz habe ich nur mein Leben gerettet. Das ist ein Naturrecht, das von niemandem streitig gemacht werden kann. Aber DU bist Ursprung unnötiger Vernichtung geworden!"

Anderwelt zerrte. Gern nachgegeben. Hinterm Bogengang zur Lichtschwelle ließ gleißendes Licht in ruhige Dunkelheit endgültigen Sterbens gleiten. - Nach Hause!

Oh! Noch nicht ganz. Noch auf der Lichtschwelle erreichten Schwingungen aus eben verlassener Welt. Etwas ging dort vor, das mit mir in Verbindung stand. Abwarten! Ich blickte mich um. Der ,Schwarze Mann' folgte mir. Wie kommt der denn jetzt schon hierhin? Stimmlose Frage.

"Warte auf mich!" Klar schwangen Laute, verliefen dann in fernem Hintergrund. Er eilte näher, wollte unbedingt zur Lichtschwelle. Als er fast angekommen, noch drei oder vier Schritte Abstand, sah ich seinen Kopf zertrümmert, graue Gehirnmasse lugte matschig.

"Was ist denn passiert?" Mitleidige Neugier.

"Ich wollte mit dir kommen, weil ich dort so nicht mehr leben mochte. Ich habe mich vom Dach aufs Pflaster gestürzt. Vier Stockwerke reichen, wenn man genau mit dem Kopf zuerst aufschlägt", weinte und lachte er zugleich.

"Du bist ein Idiot!" beschimpfte ich ihn mit plötzlicher Stimme.

"Ja, vielleicht. - Nein, ganz bestimmt", meinte er kopfschüttelnd, zog langsam bisher hinterm Rücken verborgene Hand vor. Darauf weinte das Köpfchen des zweiwöchigen Jungen sein Kleinkinderweinen, laut, durchdringend, nervend, aber mitleiderregend.

Übertritt! Gemeinsam auf Lichtbahn zur Anderwelt, ganz und unversehrt.

Dunkles Emporsteigen. - Was ist hier und wo? - Rote Schwaden wabern... leerer Raum... Rot? - Nein, viel eher finster geronnenes Blut, bereits seit Stunden Außenluft ausgesetzt!

Dennoch anscheinend nicht völlig verfestigt oder hart geworden. Nur zäh, unendlich zäh und fädig, wie alter ausgelutschter Kaugummi. Aber selbst speichelverkneteter Kaugummi wird im Verlaufe von Stunden hart, klebt an mehr oder wenig zufälliger Unterlage derart fest, dass er nur mit höchsten Mühen und größter Vorsicht abgelöst werden kann, will man dem Untergrund nicht schaden.

Hier keineswegs. Trotz aller Festigkeit, trotz allem zähen Verweilen scheint Bewegung gegeben. Sie verläuft nur in endlos gedehnter Zeit, fast unmerklich. Immerhin, fragenden Gedanken letztlich erschlossen.

Was nützt es, jenes dumpfe Wissen? - Wissen? - Hier gibt es kein echtes Wissen!

Alles einzig Vermutung, festgemacht an vermeintlich bekannten Umständen. Dabei stehen angeblich erkannte Verhältnisse so fremd da, dass sie genauso gut aus anderer Welt stammen können, unbekannt wie Seelenregung von Stubenfliegen. Es gibt nichts zu sehen, außer wirr düsterer Rötung, nichts fühlbar, außer schwül drückender Umgebung, im Grunde völlig unklar.

Riechen? - Nein! Auch das geht eigentlich nicht, abgesehen vom allgegenwärtig dumpfen Muff. Überall verteilt, in allem enthalten, schläfrig und erneut einschläfernd über alles gestülpt. Und dieser Muff kann keinem eindeutigen Ursprung zugeordnet werden, lässt alle Klarheit vermissen. Nicht stickig, nicht feucht oder sonst wie klemmend. Trocken und fest lagert er um jede Einzelheit.

Welche Einzelheit? - Zu viele Gedanken, zu viele Fragen, zu viele fehlende Antworten... keine Stimme, kein Laut, keine Regung... Leere... Tiefe... Schweben...


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Mannie Manie © 1996-2000
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