Kring 01, 05. Kapitel, Seite 43

 

 
   
 

 


Zwölf war für die Alten eine Ganzheit, also heilig. Es gab zwölf Gottheiten, die gemeinsam erst gesamte Gottesmacht darstellen. Auch in anderen Ländern gibt es diese Zwölfheit. Allesamt Gegenden, wo indogermanische Völker leben oder entscheidenden Einfluss ausübten. So ist es kein blinder Zufall, dass es eben zwölf Monate gibt und zwölf Tierkreiszeichen in der Astrologie, zwölf Jünger Jesu. Nur in den germanischen Sprachen gibt es Zahlworte bis zwölf. Aber das in allen, jedoch nirgendwo sonst. Die Alten rechneten nicht mit zehn, sondern mit Zwölfereinheiten. Diese Verfahrensweise ist wesentlich handhabbarer als das Dezimalsystem. Zwölf ist durch zwei, drei, vier und sechs teilbar. Zehn nur durch zwei und fünf. Keineswegs praktischer, weil in Dutzendzählweise die nächst höhere Einheit folgerichtig Verzwölffachung, statt Verzehnfachung. Hundert also zwölf mal zwölf! Das ist genauso einfach. Es gibt keinen echten Vorteil im Dezimalsystem.

Es sind also auch ganz nüchtern praktische Rechenkünste in der Runenreihe verborgen. Mathematik und Geometrie, denn mit einem einfachen Zirkel kann jeder gezogene Kreis fugenlos in sechs gleiche Abschnitte geteilt werden. Mit ein wenig Verstand gelingt das dann jedem bis mindestens sechsunddreißig Unterteilungen und rechten Winkeln. Wissen liegt darin! Wissen, Gewissheit und durchaus echte Weisheit. Aber es ist nicht einfach offenbar, sondern bedarf eigener Anstrengung. Man hat ein Geheimnis aufzudecken, ins Verborgene zu schauen. Die Runen heißen nicht nur 'Geheimnis', sie sind Geheimnis!"

Er hielt inne, schaute lächelnd, bemerkte offenbar mein geringes Verständnis zu Letztgesagtem. Dennoch berührten mich seine Ausführungen merkwürdig. Irgendetwas trat gedanklich über. Aber was? "Es ist ein bisschen viel für mich, alles gleich und sofort richtig zu verstehen, mein Herr."

"Zweifellos, junger Mann! Und nicht etwa, weil sie begriffsstutzig sind. Warum erzähle ich ihnen das alles, halte einen derart langen Vortrag? - Weil sie es wissen wollen! Weil sie es wissen sollen! Weil es ihnen mitgeteilt sein muss!"

"Das verstehe ich nicht ganz", gestand ich verblüfft.

"Sie sind ein Fragender und haben noch einen langen Weg vor sich. Es ist ein weiter Weg, der sie durch Höhen, Tiefen, Irrungen und Wirrungen führen wird. Sie haben die Gabe des Vorherwissens und sie haben eine Bestimmung, sogar mehrere. Unter anderem die Bestimmung, das eben Gehörte weitergeben. Sie werden wissen, wenn es so weit ist. Untrüglich! Eines Tages werden sie genau wie ich jetzt jemandem begegnen, dem sie das alles weitergeben müssen. Sie werden es vorher nicht wissen, auch nicht wissen, ob Mann oder Frau oder wer es ist. Aber sobald sie diesem Menschen begegnen, werden sie Gewissheit haben. Doch noch werden sie forschen und erfahren müssen. Es wird nicht leicht für sie, und ich kann ihnen versichern, dass der Weg steinig, voller Gefahr und tiefer Dunkelheit sein wird. Aber sie werden gehen wollen, weil sie ihrer Bestimmung folgen möchten und sie auch erfüllen, indem sie ins Verborgene und Tiefe schauen werden, in viele Leben und Wanderungen der Seele. - Sie sind der Träumer!"

Längst bremste der Schnellzug, rollte in einen großen Bahnhof. Rasch blickte mein Abteilgefährte aus dem Fenster: Stuttgart, Hauptbahnhof! "Oh, wir sind da. Ich werde sie jetzt verlassen, junger Mann. Hier muss ich aussteigen. Leben sie wohl, und alles Gute für sie - Träumer!"

Verwirrt blieb ich im Abteil zurück. - Wieso Träumer? Ich bin kein Traumtänzer!

Der Bahnsteig grenzte zur anderen Wagenseite. Ich ging auf den Gang hinaus, zog das nächst gelegene Fenster herunter, wollte letzten Blick auf den seltsamen höflichen Herrn erhaschen. Aber er schien bereits zwischen herumwuselnden Leuten untergetaucht. Nur fern sah ich einen hochgewachsenen Mann in dunklem Anzug und mit breitem dunklem Hut.

Ist er das? - So groß erschienen er ursprünglich nicht. Jetzt nur von hinten gesehen, konnte es leicht täuschen. Ich ging wieder ins Abteil zu meinem Sitzplatz, lehnte nachdenklich zurück. Der Zug rollte in Gegenrichtung aus dem Kopfbahnhof, fuhr weiter nach München und Wien. Niemand kam neu in den Wagen. Vom Gang wehten Unterhaltungsfetzen aus Nachbarabteilen.

Wer mag er sein? - Allein saß ich mit Vermutungen und Mutmaßungen, erreichte gedankenversunken mein Fahrtziel: Ulm an der Donau! Weiterhin schwirrte mir der Kopf. Und noch mehr beim Anblick himmelstürmenden Turms riesiger gotischer Kathedrale, dem protestantischen ,Ulmer Münster'. Höchster Kirchturm der Welt, hunderteinundsiebzig Meter!

Eins und sieben ist acht und eins sind neun, zählte ich stumm. Drei mal drei. - Was? Und wie viel ist es in Dutzendzählweise? Hundertdreiundzwanzig Meter! Eins und zwei ist drei und drei sind sechs. Die Grundzahl des durch seinen Halbmesser geteilten Kreises. Zweimal die Drei, Hälfte des Ganzen und in beiden Fällen Dreierzahlen. - Ausgeschlossen, kann doch nur schlichter Zufall sein! Oder sollte der fremde Herr mir tatsächlich grundlegende Einsichten übereignet haben?

In späteren Jahren dachte ich oft an diese seltsame Begegnung mit dem höflichen älteren Herrn, dessen Namen ich nicht erfuhr. Im Verlaufe eigener Studien wurde schließlich gewiss, Abmaße heiliger Orte und sakraler Bauten sind niemals zufällig im Sinne von 'irgendwas', sondern mit größter Sorgfalt ausgesucht und überlegt. Auch wenn bedacht sein muss, die Baumeister des Mittelalters rechneten nicht in Metern, ist doch das Maß 'Meter' auf überkommenen Maßen gegründet. Auch der Einwand, das Metermaß sei ein wissenschaftlich hergeleitetes Elementarmaß, erst vor über hundertzwanzig Jahren allgemein eingeführt, bestätigte vielmehr die Aussagen des Fremden im Zugabteil. Er bekräftigte ja gerade den Umstand, Dreier-, Sechser- und Zwölfermaß sei grundlegend, kehrt somit stets wieder, weil Teil und Inhalt des Grundgedankens. Also muss in Übertragung alter Gebrauchsmaße gleichfalls altgewählte Größe aufscheinen. Es könnte demnach sogar beliebiges Maß sein.


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