Nein, für mich alles gelaufen. Claudius gehörte nicht unbedingt zur Sorte Mensch, womit ich mit Helga gemeinsam Vergnügen schätzte. Derzeit jedenfalls nicht. Obwohl, andererseits: Stille Wasser gründen tief! Und grauer Bekleidungsstücke ledig, könnten durchaus andere Güteklassen aufscheinen. Helga schien es so zu sehen. Kunststück! Darin wirklich geübter als unsereins. Zudem grummelten mir unerklärlich widerfahrene Angelegenheiten erneut im Bewusstsein, beschäftigten mehr als ich eingestehen mochte. Jetzt bohrte eher Bedürfnis, darüber sprechen. Aber mit diesem Claudius dabei?
Allein Helga fiele Verständnis für meine Geschichte schon einigermaßen schwer. Solche Abläufe mussten Außenstehenden wirklich sehr fragwürdig klingen. Helga kicherte wahrscheinlich und glaubte es nicht. Verständlich! Oder sie säße mit todernstem Gesicht da und dachte ihr Teil. Außerdem konnte sie ein grässliches Klatschmaul sein. Gemeinsamen Bekannten und Freunden steckte sie bei passender oder unpassender Gelegenheit sicherlich einiges davon. - Wenn sie es beispielsweise Baldwin erzählt. Ausgerechnet dem. Hochnotpeinlich.
Also entschlossen: "Ach Helga, ich glaube, dass ich heute Abend kein guter Gesellschafter mehr für euch sein kann. Seid ihr mir böse, wenn ich mich hier von dannen mache?"
"Schade," seufzte Helga. "Ich hatte Claudius viel von dir erzählt und er war schon ganz gespannt."
"Es tut mir leid, aber was nicht geht, das geht eben nicht. Ich bin nicht mehr in der erforderlichen Stimmung. Und du weißt, wie notwendig die richtige Einstellung für eine erfolgreiche Séance ist." Schamlos nutzte ich aus, dass Helga und auch Claudius gleichfalls keine sonderliche Lust mehr zur Séance verspürten, gern anderen Genüssen frönen mochten, allerdings nicht zugeben wollten. Daher tat ich falsch unschuldig, als habe ich an nichts anderes gedacht, denn an Geistersitzung. Wirklich nicht wahr! Außerdem mochte ich Claudius nicht überflüssig kränken, ihm verklaren, er sei nicht so sehr mein Fall, jedenfalls nicht heute. Eigentlich schien er recht annehmbar. "Wir sollten uns eine andere Gelegenheit heraussuchen, das Ganze nachzuholen, einverstanden?"
Zum Abschied von beiden gleichzeitig gedrückt. Küsschen rechts, Küsschen links und in die Mitte. Unmöglich gewordener Lage froh entronnen, auf dem Weg zum nahen U-Bahnhof.
Zehn Uhr abends bereits verstrichen, längst dunkel draußen, angenehm warme Luft. Nur Autoabgase mufften unerbittlich. Aus umliegenden Kneipen drang Lärm zechender Gäste. Viele genossen vor Hauseingängen lauen Spätabend. Nach links in die Hauptverkehrsstraße abgebogen, gähnte Einlass zur U-Bahn aus kühlen Tiefen. Stufen forderten zum Bahnsteig abwärts. Die große Uhr zeigte 22 Uhr 36 und zischende Gleise verrieten nähernden Zug, erübrigten Blicke zum Fahrplan. Von hier aus egal, welche Linie. Erst einmal fuhren alle in gleiche Richtung. Gedanken bei letzttägigen Ereignissen, blieb mir verborgen, was verstohlen folgte.
Ein Schemen. Der Schemen! - Erkenntnis wie Stromschlag. Unterbewusstsein gab Erinnerungsscheibchen frei. Vorher konnte ich nichts bemerken. Zudem haben Schemen widerliche Eigenschaft ausgesprochener Zwielichtigkeit. Und wer denkt schon an derart unwahrscheinliche Sachen?
Selbst Gespenster sind ersichtlicher. Zwar fürchtet man sie, wie ich heute im Keller meines Wohnhauses... Aber echt daran glauben? - Bis einem eins begegnet! - Doch selbst Gespenster scheinen fassbarer als bloßer Schemen. Schemen sind vollkommen vage, alles und nichts. Man wähnt sich eher geisteskrank, statt von Schatten verfolgt. Unabschüttelbar wie ein Folgegeist, übelwollend obendrein, muss dies Etwas beständig an meinen Fersen geblieben sein. Überwachung in vollkommener Vollendung.
Mit kreischenden Bremsen hielt die Bahn, öffnete fauchende Luken. Eilig durch, ungefähr bis Mitte zu einem Behindertenplatz an einer der Türen. Unbestimmte Angst im Nacken. Beim Hinsetzen gehetzter Rundblick. Ohne übermäßige Verrenkungen konnte man hier gesamten Wagen überschauen. Wenige Fahrgäste. Nahe Tür bot brauchbaren Fluchtweg. - Etwas kurz gedacht. Im Tunnel fast ausgeschlossen. Nur an Haltestellen wäre wirklich Flucht möglich.
Endlich schlossen die Türen. Die Bahn fuhr an. Eisiger Lufthauch streifte im Nacken. Erschrockener Blick aufwärts. War wohl der Fahrtwind durch oben offene Fenster, beruhigte ich mich selbst. - So eisig? Wie in tiefster Winterkälte? Und im Tunnel? - Nackenhaare sträubten und Gänsehaut kroch am Rücken.
Jetzt mach' dich nicht selbst verrückt! Du hast einiges an Alkoholischem reingeschüttet. Da friert man schon mal sehr leicht. Und im Tunnel ist es im Sommer sowieso kälter als an der Oberfläche.
In dieser Weise wollte ich mir selbst gut zureden, Angst fernhalten, die in schierer Wildheit hereinstürzte. Klebriger Sitz. Aufstehen gelänge lediglich in alptraumhafter Zeitlupe. Rasendes Herz. Adrenalinausschüttung. - Flucht! - Wohin? Wo lang?
"Uuööooiiiääaaüüee, uuööooiiiääaaüüee, uuööooiiiääaaüüee! Aaeepaannndiiinnnaaammm, Aaeepaanndiiinnnaaammmmmmm!" Gesungene Raunlaute, vor Jahren gelernt, laut ausgestoßen in eigene Tiefen einwärts, brachten den Körper zum Schwingen, vermengten mit bahnfüllenden Fahrgeräuschen.
Es half wenigstens leidlich, hielt blanke Furcht zurück. Wieder klarer werden. Angstbann wich langsam, lag aber weiterhin auf Lauer. Reißwütiges Raubtier! Die Bahn polterte in voller Fahrt über etwas drüber. Beleuchtung verlosch. Tunnellichter jagten an Fenstern vorbei. Wieder stand das lauernde Tier.
Was jetzt? Vaterunser beten? - Quatsch! - Was nützt der Wüstengott im Tunnel?br>