Sämtliche Bilder an den Wänden, nichts als spießbürgerlich kitschige Nachdrucke von Malern wie van Gogh oder Renoir. Im Original heutzutage sündhaft teure Hässlichkeiten, einem stets als furchtbar überragende Kunst ums taub gewordene Ohr gehauen. - Lieber kahle Wand, statt so was! - Eines der ,Gemälde', in verschnörkeltem Rahmen erhängt, war so ein kennzeichnendes Barockportrait, woraus meist feiste Gesichter mit greulichen Glotzaugen starren. Genaueres konnte ich nicht erkennen im Zwielicht, meinte aber, es müsse J. S. Bach sein. Oder Dirk Bach? Egal, sind beide gleich hässlich. Neben dem Sofa stand auf wurmstichigem Weintischchen die Photographie eines uniformierten Mannes in staubüberzogenem Bilderrahmen. Verblasstes Gesicht konnte jeden Beliebigen darstellen. Dessen Uniform allerdings, eindeutig Wehrmachtsuniform aus dem Zweiten Weltkrieg. Während meiner Betrachtung störte plötzlich etwas.
Mit schabendem Geräusch schwang die abgeblätterte Zimmertür langsam auf. - Scharf schaudernde Überraschung! Zwar durchaus befürchtet, jemand käme. Wirklich erwartet jedoch nicht. Jetzt rächt sich, dass du dir noch keine stichhaltige Erklärung zurechtgelegt hast, was du hier suchst, was du hier willst und warum du hier sitzt, warf ich mir selbst in Gedanken vor. Unverzeihliche Nachlässigkeit! - Im Türrahmen stand eine abgerissene Gestalt.
Beim ersten hereintretenden Schritt erkannte ich den stolzen, vorbildlichen Familienvater. Löchrige Kleidung, verschmutzt, gewaltsam zerrissen, blutgetränkte Stoffe, nackte Brust zerfetzt. Hinter klaffendem Loch lag das Herz frei, pochte, tropfte fädig. Linke Brustwarze baumelte an einem Hautfetzen herab, ähnlich fauligem Auge, samt Muskelfleischklumpen. In einer Hand hielt er das abgetrennte Köpfchen seines zweiwöchigen Sohnes. Dessen verunstaltetes Kleinkindgesicht blickte anklagend herüber, spie Säuglingsgeschrei aus winzigem Mund. Des Halbtoten Gesicht vollführte Veränderung. Verzerrt und entstellt verwandelte es, verschwamm in unkenntlichen Brei, worin nur noch die Nase festen Ort einnahm. Dann klärte es wieder. - Mein Vater!
"Papa!" - entfuhr mir heftig lautes Erkennen. Blick voller Vorwurf antwortete. - Strafandrohung!
"Warum hast du das gemacht?" brüllte er zornentbrannt und streckte das Kleinkindteil faustschlagartig in meine Richtung. - Es schrie unentwegt.
"Was hätte ich denn tun sollen? Mich zerhacken lassen?" tobte ich in rasender Wut zurück. "Du bist doch da nicht gestanden! Wo warst du, als ich dich gebraucht hätte? Warum bist du nicht gekommen und hast mir geholfen?" lärmte ich weiter, steigerte zur Raserei, Wuttränen traten aus.
"ICH BIN TOT!" sagte ER einfach, ohne sonderlich erhobene Stimme. Leidenschaftslose Tatsachen, fest und klar wie harter Schlag. Selbst die Zeit wurde gelähmt vom folgenden Schweigen. - Nackte Trauer, endlos.
Heimlich hier im vielfachen Haus
versteckt vom tiefsten bis höchsten Stock
Schattenwürfe auf tristen Tapeten
wälzen sich matt in doppelte Betten
die zu klammen Fallen geraten
Schwach gehindert von Heizungsrippen
lauert im Mauerwerk kratzende Kälte
zwei Leben, verstaut im Standesamt
auf mehrmals unterschriebenen Zetteln
aufs Augenlid krauchen Hausstaubmilben
Im Land der verloren lachenden Mütter
die an Mikrowellen sich mühen
werden beklagt gebrannte Kinder
wild angefallen von den Meuten
aus dem Stromnetz entwichener Wölfe
Unversehens schleuderte mir der Kinderkopf entgegen, platschte beidhändig abgewehrt gegen Mitteltür verrottenden Wohnzimmerschranks. - Schreiend! Papa stürzte auf mich los, Gesicht in morsche Fetzen zerfallen. Knochige Totenhände krallten. Verweste Finger. Stinkender Modergeruch ließ würgen. Mit Rechts schnappte ich einen großen gusseisernen Aschenbecher, der voll alter Zigarettenreste auf dem Sofa lag, hieb wilder Wucht seitlich in des Angreifers Schädel. Nach schmatzendem Geräusch stak er fest. Vaters trauriger Blick traf meine Seele tief. Zweimal gestorben.
Er sackte an mir herunter auf dreckigen Bretterboden, schrumpfte zusehends, bis zur Größe von etwa sechsjährigem Jungen. Bedeckt vom Inhalt des Aschers, starrte dort mein eigenes Gesicht hoch, eiserne Schale halb im Kopf versenkt, umrahmt vom Kragen einer Wehrmachtsuniform. - Blitzmädchen! - Ich selbst, von mir selbst in Eigenmord. Und das Köpfchen schrie weiter, dabei doch tot.