Kring 01, 02. Kapitel, Seite 16

 

 
   
 

 


Laufflächen des Bahnsteigs und deckenstützende Säulen bestanden aus Naturstein. Nicht Gießbeton, wie in U-Bahnhöfen sonst. Mindestens alles mit Naturstein verkleidet. Darunter könnte freilich Beton lauern. Sah aber nicht so aus. Entweder große Steinplatten oder entsprechende Steinblöcke. Vorherrschende Bauart erinnerte an wilhelminische Bauten.

Unmöglich! Aus wilhelminischer Zeit stammt die U-Bahn hier ganz bestimmt nicht. Im 'Dritten Reich' nötigte man durchaus ähnliche, nur gewalttätigere Machart. Doch auch dies schien ausgeschlossen. Trotzdem, alles hier musste schon weit über ein halbes Jahrhundert alt sein. So was baut man seither nicht mehr in solcher Weise. Und in dieser Gestaltung schon gar nicht. Um gewaltig dicke Säulen herumgegangen, entdeckten wir einen Treppenauflass.

Breit und schwer lasteten Stufen. Leicht geschwungen, ähnlich künstlichen Wasserfällen barocker Parkanlagen. Nur eben alles aus Stein. Kein Wasser selbstverständlich. Steinerne Geländer lagen wulstig wohl vier Meter auseinander, längs gekrönt mit eingelassenen kopfgroßen Eisenkugeln. Seltsames Zeug, aber durchaus beeindruckend. Ich erinnerte Abbildungen in Büchern mit vergleichbaren Ansichten der moskauer U-Bahn. Verschnörkelt rotfaschistische Zuckerbäckerart.

Erst recht unmöglich! Hier ist nicht Russland, geschweige denn Moskau. Wir stiegen hinauf. - Ziemlich dunkel oben, von unten daher kein Treppenende sichtbar. Weiterer Durchlass versperrt. Dickstangige Eisengitter verwehrten jedes Vorankommen. Allerdings entsprechende Gitterpforte eingefügt. Enttäuschte Rundblicke. Ich streckte eine Hand vor, wollte prüfen, ob sie aufgehe. Fremder Freund packte meine rechte Schulter, riss mich geradezu gewalttätig kräftig zurück.

Empört funkelte ich ihn an: "Was ist denn? Vielleicht ist die offen!"

"Warte erst mal. Wir sollten vorsichtig sein, nach allem was passiert ist", entgegnete er fast schroff.

Unbemerkt folgte uns eine junge Frau. Sie griff ans Pfortengitter und rüttelte. Keine Gelegenheit mehr, sie daran hindern. Hoher Summton schwoll. Sie rüttelte wie besessen mit beiden Händen weiter. Verzerrtes Gesicht. Sie konnte nicht aufhören, rüttelte nicht, wurde gerüttelt, sah mit verdreht aufgerissenen Augen herüber. Ihr Mund öffnete zum Schrei.

Kein Laut entwich. Nur dieser Summton wechselte in tiefere Ebenen, dröhnte. Änderte erneut, wurde höher, durchdringender. Unerträgliches Kreischen. Grell blaues Leuchten hüllte die Unglückliche, fraß sie mitsamt Kreischton. Jetzt erstarb das gleißende Blaulicht. Gleichzeitig verlosch jenes bleiche Glimmen, welches bisher den U-Bahnhof leidlich erhellte. Stockdunkle Lichtlosigkeit. Wieder kroch lähmende Angst näher. Vom Bahnsteig gellten Schreie, verstummten abrupt.

Mein fremder Freund hielt mich noch immer am Oberarm fest. Reglos aneinander gedrängt standen wir. Wuselig undurchdringliche Finsternis auf dem Bahnsteig unten. Ansonsten lastende Stille. Lediglich Atem und jagenden Herzschlag im eigenen Ohr. Dennoch brennende Hoffnung, mit Hilfe des Freundes Auswege finden.

Licht schimmerte. Ein Kreisel tanzte auf dessen Handteller, summte und spendete Licht, gleich jenem in der Schachtel neben dem Wecker an meinem Bett. Der fremde Freund musste ihn hervorgeholt und in Bewegung versetzt haben. Aus seiner Gürteltasche? Zwar leuchtete das Ding nicht übermäßig stark, genügte aber für nächstliegende Dinge, ließ ausreichend erkennen. Zugleich bot entstandene Lichthülle annehmbaren Schutz, zumindest gegen bestimmte Gefahren. Ich glaubte so und schöpfte erleichtert Atem. Vorsichtig stiegen wir zum Bahnsteig hinab.

Düster stand die jetzt völlig tote U-Bahnraupe auf ihrem Gleis. Offene Falttüren gähnten. Niemand zu sehen. Nur eine fallengelassene Umhängetasche nebst Sandale in zwei Metern Abstand. Soviel ersichtlich. Nichts sonst. Keine Menschenseele. Alles leer und verlassen. Außer uns beiden müssten wenigstens dreißig bis vierzig andere Fahrgäste hier sein.

Wo steckte eigentlich der Fahrer? In jedem dieser Züge saß einer vorn. Unseren bekamen wir nicht ein einziges mal zu Gesicht. - Wenn alle verschwanden, dann ist er es wahrscheinlich auch, falls nicht schon vorher.

Der Freund zerrte mich zur Heckseite des Zuges. Gemeinsam quetschten wir entgegen Fahrtrichtung zwischen Wagen und Wand in Tunnelfinsternis. Wenig Platz dazwischen. Bedrohlich sprang sein Kreisel, fiel jedoch nicht vom Handteller. Obgleich beide recht schlank, bereite uns der Weg zum Ende des Zuges reichlich Beschwerden. Gleisschotter knirschte. Ab und an kollerten weggetretene Einzelsteine. Scharfer Teergeruch wehte unerwartet in Nasen.

"Wollen wir denn nicht nachschauen, was mit den anderen Leuten ist?" mahnte ich unwillig.

"Die sind nicht mehr vorhanden. Niemand kann ihnen noch helfen. Am allerwenigsten wir zwei", beschied er kurz angebunden. "Los komm, sehen wir zu, dass wir hier wegkommen. Nur ein Kreisel für zwei hält nicht alles ab. Mach hin!"

Widerspruchslos folgte ich in Dunkelheit des Fahrtunnels. Etwa zehn Meter Sicht. Verrottete Kabelstränge hingen wie faulige Lianen herunter. Eilig stolperten wir in gewählte Richtung. 'Freund' wusste offenbar sehr genau, wohin er wollte, musste einigermaßen gut Bescheid wissen. Der U-Bahnhof hinter uns schien jedoch auch für ihn kaum erforschtes Gelände. Nach gehöriger Strecke blieb er stehen, griff mit freier Hand etwas aus seiner Gürteltasche, reichte es mir. Ein zweiter Kreisel.


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