Wenn jener betuchter Herrschaften Ansinnen so ersprießlich wie behauptet, warum machen sie es dann nicht selbst? - Weil es einfach nicht wahr ist, was sie sagen. Und dumm letztlich auch noch. Jeder gescheite Kaufmann weiß, er vermag nur dann Geld verdienen, wenn mögliche Kunden Geld haben. Dies fängt auf allerunterster Ebene an. Wer keine 'Asche' übrig hat, kann irgendwann auch auf Pump nichts mehr ausgeben. Und dann? Geschäftspleiten am laufenden Meter. - Tolle Rechnung. Strohdumm ist sie und aasfrech obendrein!
Aber zu dieser Sorte gehörte der Herr im Abteil nicht. Nachdem er höflich um Platz bat und seinen Koffer verstaute, saß er ruhig gegenüber und holte ein Buch hervor. Den Titel erinnerte ich später nicht mehr, wohl aber das Umschlagbild. Offensichtlich bronzezeitliche Werkstücke. Erkannt, nachdem er den Band ablegte und beim Abteilkellner Getränke erstand. Sachbuch über archäologische Ausgrabungen in Gefilden des Nord- und Ostseeraums, dessen Glanzumschlag auch ein megalithischer Steinkreis zierte. Stonehenge nicht.
Jedoch wusste ich entfernt, es gab solches auch in unseren Gegenden und in Skandinavien, bevor liederlicher Weise Großsteinsetzungen und Hünengräber für Baustoffgewinnung zertrümmert. Vielleicht nicht ganz so beeindruckend wie Stonehenge. Aber noch vor über zweihundert Jahren standen allein in der norddeutschen Tiefebene mehr als fünftausend gewaltige Hünengräber, welche nach und nach schnöde gesprengt und zerklopft dem Straßenbau dienten. - Kulturbarbarei! - Banausen des Barock und Rokoko luden dies hauptsächlich auf ihr grobschlächtiges Gewissen.
Der höfliche Herr bemerkte meinen wissensdurstigen Blick. "Sie dürfen gern den Band nehmen und anschauen. Aber ich möchte sie warnen, junger Mann. Inhaltlich ist dies eine knochentrockene wissenschaftliche Abhandlung über megalithische Fundstätten an Nord- und Ostsee. Also vornehmlich mittleres Europa und südliches Skandinavien."
"Oh, wirklich? Aber es scheinen doch viele erklärende Bilder drin zu sein."
"Ja, sicher. Trotzdem ist dieses Werk vornehmlich für Fachleser gedacht. Wer versteht denn schon wirklich etwas von diesen uralten Runenzeichen, womit damals Waffen, Schmuckstücke oder besondere Gebrauchsgegenstände verziert wurden?" Er blätterte eine andere Seite mit Bild auf und zeigte sie. Eine Lanzenspitze, kunstvoll mit mehreren eckigen und halbrunden Zeichen versehen. Sogar Hakenkreuze.
Wir kamen ins Gespräch. Über jene eingegrabenen Zeichen wusste er erstaunlich viel. Keineswegs von Übertriebenheiten verfälschender Vorstellungen des 'Dritten Reiches' befallen. Heutzutage verwendet man keineswegs irgendwie Hakenkreuze, will man nicht sofort missverstanden oder zu langatmigen Erklärungen gezwungen sein oder wagen, was am peinlichsten quält, dass von falscher Seite Beifall rauscht.
"Dabei ist das Hakenkreuz ein viele Jahrtausende altes Heilszeichen, noch heute im buddhistischen Bereich unbefangen verwendet", lächelte der freundliche Fremde. "Es zeigt, wie nah diese Lehre dem Abendland verwandt, wo Hakenkreuze schon vor bald fünftausend Jahren gebräuchlich. Viele Schmuckstücke der Bronzezeit sind damit versehen. Auch altgriechischen und altrömischen Mosaiken häufig eingefügt. Sonnenrad, Mühlenrad, Windmühle, angetrieben von Gesetzmäßigkeit, deren spürbarer aber nicht unmittelbarer Ausdruck auch im Wind offenbar. Im germanischen Bereich auf Eckspitzen gestellt, besser in Buchenstäbe zu schneiden, mangels Papyros. Daher rührt unser Wort 'Buchstabe' für Einzelzeichen, weil darin als 'Lose' meist nur eine Rune geritzt, sowie die Bezeichnung 'Buch' für sinnvolle Zeichensammlung."
All das erklärte jener höfliche Herr. Derart ausführlich wusste ich damals kaum etwas davon; nur recht wenig und bruchstückhaft.
"Sehen sie, junger Mann, Runen sind nicht einfach bloß Schriftzeichen. Sie stellen Laute dar, das ist richtig, aber Laute galten in alten Zeiten als Gedanken und Wirkungen, die man zwar nicht sah, doch um so besser hörte und verspürte, obwohl keineswegs selbst sicht- oder greifbar. Jeder Rune ist ein bestimmter Laut zugeordnet, auch unseren gewöhnlichen Buchstaben, doch ist dieser Laut zugleich ein Ton. So gesehen, entsprechen diese Male gewissermaßen Musiknoten. In der indischen Kultur, wir sind ja 'Indogermanen', wird derlei Mantram genannt. Mantren werden ebenfalls ganz bestimmte Auswirkungen zugeordnet, die sich in der ersichtlichen Welt bemerkbar machen. Dies gilt hier genauso. Runen sind Schwingungen, blieben in unserem Wort 'raunen' erhalten, was soviel wie geheimes Verständigen oder Flüstern bedeutet. Wenn man jemandem etwas zuraunt, flüstert, dann deshalb, weil es anderen verborgen bleiben soll. Raunen wird auch als unbegreiflicher Laut oder Ton verstanden.
Poetisch kann man sagen: Alles ist Musik und Schwingung! Haben doch Physiker unlängst sicher festgestellt, Atome bestünden aus gebündelter Strahlung, Schwingung, schwingen selbst und strahlen, senden Wellen aus. Moderne Wissenschaft bestätigt letztlich gedankliche Vorstellungen der Alten. Auch die Vorstellung des Atoms ist schließlich uralt, wurde erstmals von den antiken griechischen Philosophen genauer durchdacht. Das ist mittlerweile zweitausendfünfhundert Jahre her, aber jetzt erst von den neuen akademischen Disziplinen der Atom- und Quantenphysik hinlänglich bestätigt. Und die Quantenphysik bestätigte die Schwingungseigenschaft aller Materie.