Flucht! - Flucht, dröhnte als einziger Gedanke. "Wie viele Tote hast du verschuldet?" werden jene Leute fragen, wenn sie aus anderen Ebenen zurück in diese staubige kommen. Vor harte Richter geschleppt, kriege ich keinen Ton heraus, werde stumm und unfähig sein, auch nur meinen Namen zu sprechen.
Wie heiße ich denn? - Ich weiß es nicht!
Hab' ich gelebt? - Bin ich denn da?
Wie kam ich hierher? - Wo kann ich jetzt hin?
Aufs Dach! - Dächer sind hier doch völlig flach!
Man müsste leicht über Dächer flüchten.
Man müsste leicht über Mauern klettern.
Man müsste leicht über Dachrinnen tänzeln.
Man müsste leicht Kamine erklimmen.
Man müsste leicht herunterspringen.
Man müsste leicht... man müsste leicht...
Man müsste eine Krähe sein und seinen Feinden Augen aushacken!
Man müsste eine Ratte sein und Verhassten Sehnen zernagen.
Man müsste eine Spinne sein, mit klebrigen Netzen Unschuld fangen.
Man müsste, man könnte. - Was hindert daran?
Ich muss, also kann ich. - Wie komm ich aufs Dach?
Aus rottiger Wohnung ins Treppenhaus gehastet, stand eigenartig klar, hier im obersten Stockwerk müsse irgendwo eine Leitertür in der Decke sein. Allerdings bedarf es eines langen Hakenstocks, will man sie herunterziehen. Gewöhnlich greifbar aufbewahrt. Oh ja! - Beim drohschwarzen Stromzähler. Da hing er. Rascher Griff durch staubige Spinnweben.
Kein leichtes Unterfangen, die Deckentüre aufziehen. Althartnäckiger Widerstand wollte überwunden werden. Noch schwerer, deren Schiebeleiter auseinander zerren. Sie quietschte dermaßen, dass ich fürchtete, im gesamten Rund des Platze höre es jedes leidlich offene Ohr. Mit größter Anstrengung schließlich geschafft. Schweißnass kletterte ich aufs Dach.
Hüfthohe Ummauerung ringsherum. Sollte wohl irgendwann ein Dachgarten werden. Brüchige Teerpappe zerbröselte knirschend unter Sohlen. Zum nächst höheren Dach ragte rostige eiserne Leiter an fleckig grauer Wand des Nachbarstockwerkes. Das Nachbarhaus hatte also vier Geschosse. Unsicher knarrte die Leiter unter seltenem Gewicht, auch sonst reichlich gelockert. Doch sie hielt glücklicherweise. Außer Atem und etwas mühsam mein eigenes Gewicht über Brüstung gehievt.
Dieses Flachdach schien lediglich weitere Ausgabe des unteren. Nur eine Besonderheit. - Ein riesenhaft schwarzer Mann - Schwarzafrikaner? - stand abgewandt, Rücken zu mir an der Brüstung zum Platz, sah irgendwohin. Völlig nackt.
Unsicherheit. Erst mal abwarten. Meine Ankunft bemerkte er anscheinend noch nicht, schaute aufmerksam zum Platz hinunter. Erst nachdem ich einige Schritte auf ratschender Dachpappe wagte, wandte er seinen Kopf herum, lachte breit herüber. "Komm mal her. Das musst du dir ansehen. Da ist vielleicht was los."
Linke Pranke winkte. Soll ich näher? - Neben ,nacktem Neger' angekommen, folgte mein Augenmerk dessen Blickrichtung über sandigen Platz.
Unten lagen zerborstene Hinterlassenschaften jener makellosen Familie, zerstört und verstreut vom Raubstrauß. Der umgestürzte Kinderwagen vollkommen zertrümmert. Räder lagen viele Meter weit auseinander, das zerfetzte Verdeck auf der Sitzbank, welche so gierig die alte Frau fraß. Achtlos liegengebliebener Kopf schöner Mutter. Leere Augenhöhlen, blutig bis schwarz. Von hier konnte man nicht mehr erkennen, ob vorhin tatsächlich Menschen dort litten und starben. Alles sah nur sehr unaufgeräumt aus.
Wirklich Menschen?
Vom Art-Deco-Rieseradio-Hochhaus rollte gemach ein Müllwagen mit gelbem Blinklicht zur Todesstätte. Sonst keine Bewegung erkennbar. Wahrscheinlich lauerte der Mordstrauß wieder hinter einem kränklichen Baum. Kein Lüftchen regte. Auch nicht hier oben. Wieder vollständige Bleiernheit.
Der Schwarze wandte zu mir herum. Über zwei Meter groß, sehr dickstrangige Muskeln, welche ihn trotz ziemlicher Körpermaße leicht plump erscheinen ließen. Verengte Augen, als er an mir herunter sah. Gelbe Augen! Kein Afrikaner? Längst erstorbenes Lachen. Unvermittelt packte er mit irrsinniger Gewalt mein Genick. Schmerz durchraste jedes Körperteil. Zangengriff lähmte vollständig. Kein Schreien möglich.
"Warum hast du diese Sachen an?" herrschte er mir genau ins Gesicht. "Wenn ich keine habe, brauchst du auch keine. Warum sollst du mehr haben als ich? Glaubst du, du bist was besseres, wenn du so daherkommst?"