Hinter der Felsenge sah es leider nicht viel anders aus. Nur noch mehr lange Moosbärte, Efeu und andere Klettergewächse hingen vom Gestein herab oder klammerten daran fest. Größtenteils ragten oder baumelten diese selbst von oberster Schluchtkante, verbargen stellenweise alles dahinter. Düstere grüne Vorhänge im neigenden Tag.
Nach kurzem Flug setzte die Elster in einem der Vorhänge ab, schlüpfte hinein - lugte wieder hervor, wurde erneut unsichtbar. Dram maß dem Spiel des Vogels keine sonderliche Bedeutung bei, trat aber näher, musste ohnehin daran entlang, wollte er weiterkommen. - Die Elster war verschwunden. Wahrscheinlich flöge sie auf oder würde sonst wie bemerkbar, denn so nah ließe auch eine zutrauliche keinen Menschen heran. Vorerst jedenfalls. Er zog Hänge- und Kletterpflanzen auseinander, sah genauer nach. Unregelmäßige Schluchtkanten wiesen häufig Spalten in Höhe auf, scheinbar oft tief eingeschnitten. So auch hier.
In matter Dunkelung erkannte er einen Spalt im Gestein, leidlich gewährter Durchlass. Etliche Schritte voraus schimmerte hell noch genügendes Licht begonnenen Abends. In dieses Licht flatterte die Elster hinein. Ohne sie wäre er vorübergegangen, verhangenen und von Schlingpflanzen überdachten Eingang nicht bemerkt. Dram zwängte Schulter voran durchs schwarzgrüne Dunkelgewirr zur gut zwanzig Schrittlängen entfernten Helle. Zäh ruppige Efeuzweige zerrten an ihm, gaben seinem Drängen schließlich Raum. Auch den Ausgang verdeckte lebendiger Schleier.
Unvermutet großer Felsenkessel dahinter, hoch umschlossen von steilen Felswänden, bestimmt weit über hundert Schritt in Länge und Breite. Gemessen an der Passwegschlucht, großzügige Weite. Selbst einige stattliche Bäume westen hier ihr Dasein. Kleine Gebüsche und Beerensträucher wuchsen ebenfalls im unregelmäßig hügeligen Kesselgrund. Wegen größerem Himmelsraum erreichten Sonnenstrahlen offenbar auch den Boden. Noch beschien untergehendes Sonnenlicht obere Teile aufragender Felsrunde, spendete geradezu verschwenderische Helligkeit. In der Schlucht wurde es schon wesentlich spärlicher. - Stolz flog die Elster durch kleine Kesselwelt. Dram wusste, Elstern sind kluge Vögel, lernen sogar sprechen, haben sie gelöste Zungen. Zwar vorsichtig, scheuen sie Menschennähe wenig.
"He, danke, Federfreundin!" Widerhall hoher Wände vervielfältigte gerufene Worte.
Vertrauensvoll neugierig ging er zur großen Rotbuche, um deren Krone sie unablässig schwebte. Frühe Sonne würde spätestens vormittags diese Stelle wärmen. Überaus angenehmer Gedanke, konnte doch damit klamme Nachtkühle vertrieben werden. Angekommen, entdeckte er die Elster wenige Schritt entfernt vom gähnenden Mund einer Höhlung.
Schützende Felsenkammer, kaum größer als kleine Dachschlafstube. Dram musste den Kopf einziehen, wollte er darin stehen. Am Boden trockenes Rottgeriesel und Sand. Alles in allem angenehm weicher Ort für aufkommende Nacht. Dram dankte dem Vogel abermals.
Nahe des Zuganges aus der Schlucht sah er schon vorhin eiliges Wasserrinnsal beständig Kesselgrund feuchten. Dram wusch sich, füllte die Wasserflasche und saß anschließend zufrieden vor der Höhle. Aus gesammelten Fallzweigen rasch kleines Feuer entfacht, Abendkühle wärmen. Ausreichende Mahlzeit für die Elster und ihn gab es auch noch. Mit Niederbrand des Feuers dunkelte endgültig Nacht. Dram kroch ins Felskämmerchen, bettete sich in den Hintergrund, schaute ins letzte wenige Licht. Unmerklich langsam schlossen Lider, kam verdienter Schlaf. Einen Schritt weit vom Eingang entfernt kuschelte die Elster im Sand, war ihm hereingefolgt. Die Nacht brachte seltsamen Traum.
Wieder im alten Zuhause. Im Vorgarten kleine Arbeiten verrichtet. Der Briefbote kam. Vier verschiedene Briefe angenommen und ins Haus gegangen. Am Treppenaufgang zum oberen Stock wartete ein fröhlicher junger Mann, stellte sich als neuer Geselle vor. Ein Wandergesell. Manche pflegten alte Bräuche noch, gingen auf Wanderschaft, wollten Wissen und Fertigkeiten vervollständigen, bevor sie endgültig irgendwo blieben oder nach Hause zurückkehrten.
Gemeinsam stiegen sie treppauf. Vier Fremde kamen entgegen. Vier Zwerge. Aldram, zu Hause so genannt, sah die Tür zu seinem ureigenen Zimmer offen. Der Raum wurde von ihm stets verschlossen. Aufgebrochen? Ohne seine Zustimmung durfte niemand hinein, außer Irmen. Und Irmen tat das nie ohne vorherigen Bescheid oder ohne Not.
Angetan mit Aldrams Kleidungsstücken liefen die Zwerge daher. Erstaunlich nur, wie genau sie ihnen passten. Dennoch ganz sicher seine Kleidungsstücke! Offensichtliche Lage: Vier Fremde erbrachen das Türschloss, stahlen diese Sachen, gleichzeitig lümmelhaft eigenen Maßen angepasst. Blanker Hohn für Aldram!
Aufgebrochene Tür gewahr, ließ er keinen Zwerg vorbei. Unter entsetztem Blick des neuen Gesellen packte er jeden vorn an der Jacke, warf einen nach dem anderen sämtliche Stufen hinab. Jeder Zwerg verschwand beim Aufschlag in Nichts, als wäre keiner von ihnen je da gewesen.
Sicherlich kein schwächlicher Mann, blieb Aldram derart rücksichtslose Gewalttätigkeit zeitlebens fremd. Allenfalls schallende Ohrfeigen hielte er unter diesem Umstand angezeigt. Er erschrak, entsetzt über eigenes Handeln. - Im Schreck erwacht, stellte Dram erleichtert fest, er habe glücklicherweise nur geträumt. Allerdings konnte er keinen Reim darauf finden. Was könnte der Traum bedeuten?