Nicht ganz begriffen, was sie genau meinte. Er versank in ihren unergründlichen Augen, deren Farbe jetzt in tiefem Nachtblau schimmerte, fragte nach langer Stille: "Sag mir, Unnru, was ist der Sinn des Lebens?"
"Der Sinn des Lebens ist: Zu sein! - Das Sein!"
"Was ist der Sinn des Seins?"
Unnru blickte ihn von der Seite her an. "Das sind die beliebtesten Fragen. Viel gestellt und nie beantwortet. Frei gesprochen aber ernst gemeint: Das Sein hat keinen Sinn! Es braucht keinen Sinn, weil es der Sinn selber ist. Es hat auch keinen Grund oder Anlass, weil es der Grund und der Anlass ist. Es hat genauso wenig Anfang und Ende, weil jeder Anfang sein Ende birgt und jedes Ende seinen Anfang.
- E S I S T ! -
Betrachte es ähnlich einer Uhr. Der Uhrziffernkreis ist der ,Urkreis'. Zwar sind die zwölf Hauptunterteilungen folgerichtig, denn ein Kreisumfang lässt sich nahtlos durch seinen Halbmesser aufteilen, doch könnte auch anderes Abmaß verwendet werden. Haben die Zeiger vollen Rundgang beschrieben, endet dieser genau an der Stelle wo er anfing und beginnen erneut einen. Ende und Anfang sind dasselbe, gehen unablässig ineinander über, zeigen keinen Unterschied. Nur das ,Urmaß Zwölf' vermag Veränderungen aufzuweisen. Das ,Uhrmaß Zeit', ist nur ein Veränderungsmaß. Beide bestehen nicht für sich allein."
"Müssen wir immer wieder neu beginnen? Hört der Kreislauf denn niemals auf?" fragte Dram etwas müde.
"Nein, nur bei einer Uhr. Ihr Laufwerk kann stehen bleiben. Aber es gibt keinen allgemeinen Stillstand. Das Sein ist beständige Wandlung. - Alles! Was du wahrnimmst, ist Verlautung des Seins. Wesenheiten, gleich welcher Art, sind Verleutungen des Seins. All das ist unendlich. Darin sind ebenso unendliche Möglichkeiten; auch Möglichkeiten der Ruhe."
"Welchem Zweck dient dann mein Leben?" hakte Dram nach.
"Den Weg gehen, den du gekommen bist, selber Wegstein und Weg für andere werden. Andere an Tore unzählbar mannigfacher Welten bringen, damit sie jene Welt finden, welche ihnen entspricht und nicht schmerzvoll und verzweifelt umherirren müssen."
"Und du, Unnru, was bist du?"
"Ich bin Verlautung des Seins! Da ich bei dir sitze, gleichzeitig auch Verleutung!"
"Ist Verlautung höherwertiger als Verleutung?"
"Nein! Sie sind Ausdrucksweisen desselben, äußern sich aber unterschiedlich. Verlautungen haben kein Ichbewusstsein wie du. Verleutungen haben stets mehr oder minder ein solches. Beide sind Verdichtungsmuster im endlos weiten Netz, Verknüpfung, Verbindung, gewebt aus unendlichem Faden. - Dem Faden der drei Nornen."
"Was rätst du mir, was ich tun soll, Unnru?"
"Du bist frei, zu tun was du WILLST! Du kannst diese Nacht geschützt hier ruhen und morgen den Weg zurückgehen. Alle hier werden das bedauern, mein Freund. Du kannst für immer bleiben, eins mit uns werden. Wir würden uns alle sehr freuen. Niemand wird dich irgendwie zwingen. Nichts wird dich gefangen halten. Das wäre wertlos. - Aber du bist jetzt müde. Komm, leg' deinen Kopf in meinen Schoß. Ich werde dich wärmen und deinen Schlaf bewachen."
Geborgen in Unnrus Armen schlief Dram ein, träumte den Traum des Seins, fühlte in allen Einzelheiten, wie er sich löste, mit den Steinen des Weges verband, mit der Quelle, dem Riesenbaum, sämtlichen anderen Bäumen und Pflanzen, dem Hügel, den Säulen, den Wurzeln, Dornenhecken, Weißpferden und Vögeln, baumüberdachtem Felsentor. Sie begrüßten Dram hell erfreut, durchdrangen ihn und er sie. Unnru hieß jetzt ,Ruh' und er ,Traum'.
Er wusste nun auch jene Worte, welche Odin - allen anderen verhehlt - dem toten Balder ins Ohr raunte...
Wieder verschlossene Tür des Uhrenkastens. Golden blinkendes Pendel steht still. Fingerabdrücke unschön schmierig auf Glasscheiben im Gehäuse, vom Gegenlicht flatternder Leuchtstoffröhren gezeigt.
Was kostet das Ding? Wo ist denn das Preisschild? - Ach da! Über dem Verkaufstisch hängt es ja. "Unser Kaufhöllenpreis: 69,99"
69,99? - Warum nicht 69,95? - Na ja, trolle man eben zurück ins Gewühle nach Einkauf hastender Leute, ins lärmende Leben staubiger Straße...