Sie sehen, junger Mann, dass noch eine ungeahnte Menge Gedanken aus uralten Zeiten unausrottbar verblieb, verborgen in unserer Sprache, verschlüsselt in Gebräuchen, über die wir gar nicht nachdenken. Erst wenn wir die Herkunft von Worten und Gepflogenheiten erforschen, dann wird uns bewusst, dass wir nach wie vor von Urzeiten geprägt sind. Von den leiblich vererbten Eigenschaften unserer Altvorderen ganz zu schweigen. Sie sind unsere Seele, unsere Prägung, die selbst dann nicht vollständig verloren geht, sollten wir in einem anderen Teil der Welt geboren und aufgewachsen sein. Selbst wenn wir ausschließlich in einer anderen Kultur unsere Kindheit verbrachten, würden wir unbewusst vom inneren Erbe und seinen Urbildern angesprochen, kämen wir damit wieder in Berührung.
Selbstredend wären wir uns nicht darüber im Klaren, wundern uns höchstfalls, wovon wir so seltsam bewegt sind. Erst wenn wir wissen, dass es das Wispern der Erbfolge unserer Altvorderen ist, verstünden wir. Auch das Wort 'Ahne' für Vorfahr sagt ja schon, wir ahnen die Gewissheit unserer selbst. Wissen und Gewissheit ist nicht dasselbe. Übrigens ist im Wort 'Wispern' auch der Begriff 'Wissen' enthalten, weil wahres Wissen nicht lärmend posaunt, sondern unterschwellig und unaufdringlich einherkommt, hereinweht und sich letztgültig festsetzt.
In Redewendungen und Gebräuchen ist viel mehr aus Urzeiten erhalten als wir glauben oder wahrhaben wollen. Sagen wir nicht oft leichthin: Aller guten Dinge sind drei? - Den alten Abendländern, insbesondere den Germanen, war die Dreiheit heilig, was sich in der christlichen Dreieinigkeitslehre machtvoll Bahn geschaffen hat. Aus der Bibel kann sie nicht entfernt hergeleitet werden. Und erinnern sie sich bitte an die Märchen der Kindheit: Feen gewährten immer drei Wünsche!
Warum benutzen Versteigerer einen Hammer? Weshalb liegt noch heute auf angelsächsischen Richtertischen ein solcher, mit dem der Richter sich Gehör oder anderes verschafft, Sitzung oder Urteilsverkündung beendet? - In Wahrheit der Siegelhammer des Gottes Thor-Donar, mit dem ein Spruch, ein Wort, ein Laut, eine Auswirkung endgültig wurde und immer noch wird.
Beachten Sie bitte, junger Mann, im Wort ,Siegel' ist der Begriff ,Sieg' enthalten. Sieg bedeutet eben nicht allein vordergründig grobschlächtiges Überwältigen von Gegnern, sondern besitzt viel tieferen Sinn. Nämlich: Schaffen von Endgültigkeit! Das tat in früheren Jahren auch noch der Schmied von 'Gretna Green', dessen Hammerschlag auf den Amboss eine Ehe siegelte. Voll rechtsgültig! Auch dürfen wir uns den Hammer des viel verehrten Volksgottes Donar-Thor nicht als derben Totschläger vorstellen. Das sind oft geübte Vereinfachungen gewisser Leute, um damit platte Ansichten zu bestätigen, aber beweisen, wie wenig sie tatsächlich verstehen und wissen. Thors Hammer galt als kunstvoller Siegelhammer, von drei (!) erlesenen Kunstschmieden in Odins Auftrag gefertigt.
Schon allein dieser Umstand schließt jegliche Plumpheit aus, weil Wotan-Odin als Herr aller Kunst galt; selbst Künstler. Er bemängelte ja auch, der Hammer habe einen zu kurzen Stiel, seinem Wohlmaß abträglich, verfluchte deswegen die drei Zwergenschmiede. Selbstverständlich hinterließ dieser Hammer ungeheure, ja Welten bewegende Eindrücke, sobald verwendet. Aber er besiegte im Sinne von Siegeln, Gültigkeiten, Endgültigkeiten herbeiführen. Er hinterließ die Prägung, das Siegel göttlicher Macht, formte Ungeformtes, wie der Schmied Eisen. Schmiede galten früher als Künstler. Besonders dann, wenn sie kunstreich Schwerter herstellten, sie mit Zauber versahen. Wieland der Schmied war ein solcher.
Sie sind erstaunt, junger Mann? - Nun dann wird sie es vielleicht noch mehr erstaunen, wenn ich ihnen sage, dass die Runen in ihrer gesamten Reihe keineswegs eine zufällige Anordnung von Zeichen sind, sondern sinnvolle Aussage.
Jede einzelne Rune ist ein Gedanke für sich, in wahrhaft unendlichen Verknüpfungen mit anderen verkettet. Schon eine einzige Rune bildet eine schier unübersehbare Abfolge von Gedankenflüssen aus sich selbst, weil ein bestimmter Gedanke niemals allein im Raume steht, sonder stets Hinleitungen und Ableitungen hat, ständig wandelt und vervielfältigt, je nach Blickwinkel. Aber eine Einzelrune stellt lediglich Teilansicht des Gesamten dar. Erst miteinander verbunden, ergeben sie den Machtgedanken. Allumfassenheit, die über allem steht und in allem wirkt. Auch für jede erdenkliche Gottheit galt das. Besonders dann, wenn personal verstanden, weshalb die christlichen Missionare sich des Kunstgriffs der Dreieinigkeit bedienten, welche keine eigentliche Person mehr darstellte, sondern eine dreiheitliche Verschmelzung. Die heilige Dreiheit!
Nur, wie schon gesagt, davon findet man in der Bibel kein Wort. Streng genommen haben die Missionare einfach gelogen, um Seelen zu fangen. Und diejenigen, welche nicht auf derlei hereinfielen, wurden in späteren Jahrhunderten mit Gewalt bekehrt oder ganz einfach umgebracht. Die Dreieinigkeit ist abendländischen, mindestens indogermanischen Ursprungs, wie auch das Kreuz. Letzteres ist Darstellung des Menschen mit ausgebreiteten Armen. Ein Friedenszeichen und kein grausiges Todesmal. Wer andere irgendwie liebt und schätzt, zeigt das wenigstens manchmal in gleicher Geste."
Leicht verwirrt über hereinstürzende ungewohnte Sichtweisen, mein zaghafter Einwand: "Aber unsere europäische Kultur ist doch vornehmlich von den mittelmeerischen Kulturen der Griechen und Römer geprägt. Wir schreiben lateinisch, Lateinisch und Griechisch sind akademische Sprachen, unsere Geschichtsschreibung begann mit den Griechen und erst richtig mit den Römern?"