Dieser Abend verkündete Frau Lessentin keine dramatischen Entwicklungen. Einzig ihre Gesundheit. Da hat sie ihr Päckchen. Angesichts nicht mehr junger Jahre, kaum übermäßige Sorgenerregenheit. Geldlich sicherlich nicht steinreich. Doch auch dabei brauchte sie keine Befürchtungen hegen. Arm ist sie auf keinen Fall. In Armut abrutschen stand mit Sicherheit nicht an. Nein, sie darf als wohlhabend angesehen sein. Die Mark braucht sie nicht umdrehen. Tat sie auch nie, bemaß ihre Honorare stets großzügig, verursachte mir nie schlechtes Gewissen. Sie muss derenthalben bestimmt auf nichts verzichten, kann sich großzügige Weitherzigkeit leisten.
Zum Abschluss des Sitzungsabends legte ich ihr ganz wahrsagerhaft die Karten. Das löst letzte mögliche Spannungen unterhaltsam in umwerfende Tratschstimmung. Normalerweise kann ich Tratsch nicht ausstehen. Mit Leuten wie Frau Lessentin bereitet es aber Riesenspaß.
Gelöster Stimmung verabschiedeten wir uns. Wie üblich, mein Honorar in Briefumschlag unauffällig von ihr hinterlassen. Nachsehen und nachzählen erübrigen. Sie ist großzügig. Was gibt es eigentlich schöneres, als angeregte Stunden mit geistreicher Dame verbringen, wofür danach auch noch angenehmes Geldgeschenk hinterbleibt? Man kann ja nicht nur Pech im Leben haben.
Zwischenzeitlich fast zehn Uhr abends. Die Portweinflasche neigte bemerkenswerter Leere entgegen, ebenso mein Magen. Letzte Mahlzeit vor sechs Stunden eingenommen. Ausschließlich Teekuchen ist beschwerlich hinreichend. - Kannst ja noch zum Chinesen gehen und da was essen, überlegte ich grummelnden Bauches und angesichts gefüllt hinterlassenem Briefumschlag. Befriedigender Stimmung Behausung verlassen, den kleinen Kreisel mitgenommen, ins bevorzugte Chinarestaurant, etliche Straßen entfernt.
Hier wird gewisser koreanischen Gaumenreiz geboten: Kimtschi! Eine Art Sauerkraut aus Chinakohl, mit viel Chili höllisch scharf versetzt. Am nächsten Tag hat man auch noch was davon. Brennt nach wie Sünde. So dermaßen, dass ständig Wasserspülung betätigen geraten scheint, widrigenfalls man glaubt, selbst Kloschüsseln könnten verdampfen. Nicht einmal allseits gefürchteter Fuchsbandwurm überlebt solchen Durchgang. Aber das Zeug schmeckt irre. - Nicht der Fuchsbandwurm!
Satt und mit aller Welt versöhnt aus gastlicher Stätte in längst hereingebrochene Nachtdunkelheit. - Kleinen Umweg in unweit gelegene Kneipe machen? - Mal gucken ob keiner wiederguckt!
Gemahnt und gewarnt von verrückten Umständen letzter Tage, ging ich um vieles aufmerksamer meines Wegs, überquerte aus Kolonnaden heraus hiesige breite Ausfallstraße. Sie führt in Richtung nächster Stadtteile. Allerdings geht hier gerade mal die Innenstadt zu Ende. Entsprechender Verkehr an Leuten und Autos. Inmitten dieser sehr weitläufigen Straße mündet eine U-Bahnstrecke zur Oberfläche.
Blankgefahrene Gleise weisen stracks aus betonierter Wölbung der Tunnelrampe vorwärts. Erleuchtet von grellen Hochlampen, geben sie Eindruck überlanger Glitzerschlangen, ausgespieen aus finsterem Riesenschlund, lauernde Ausschau nach neuen Opfern. Ein gut gefüllter U-Bahnzug kam geräuschvoll näher, rauschte in gähnenden Rachen gegrabener Tiefe. Rascher Folge verloschen dessen erleuchtete Fenster, verschlungen von Tunnelschwärze. Alles erweckte Eindruck unerfindlicher Normalität, nahm altgewohnten Gang.
Bemerkte niemand das Verschwinden eines ganzen Zuges mit mindestens dreißig oder mehr Leuten?
Mittlerweile erinnerte ich sehr gut Abläufe vergangener Nächte und Tage. Beklommenheit schlich wie nagender Wurm durch Gedanken. Heute keine Nachrichtensendungen beachtet. Und Schlagzeilen dieses Tages verschwanden längst hinter Ladentüren. Auch mögliche Extrablätter blieben mir deshalb verborgen. Außerdem haben Tageszeitungen um ein Uhr nachts Redaktionsschluss. Ab zwei Uhr spätestens beginnt bereits deren Auslieferung. Bevor derartige Ereignisse durchsickern, vergeht ebenfalls noch einige Zeit. Und wahrscheinlich hielt die Bahngesellschaft vorerst dicht, suchte heimlich fieberhaft nach dem unerklärlich verschollenen Zug. Pannen posaunen die schließlich nicht herum. In normalen Schlagzeilen dürfte ohnehin nichts diesbezüglich aufgetaucht sein. Bei echter Panne wird sowieso vorsorglich abgewiegelt oder ganz einfach vertuscht. Sähe denen sonst gar nicht ähnlich.
Trotzdem fand ich gerade herrschende Alltäglichkeit sehr unpassend. Selbst in solch ekelhaften Monsterstädten wie Neuyork oder Paris bliebe schlagartiges Verschwinden eines U-Bahnzuges mitsamt Inhalt von über dreißig oder vierzig Fahrgästen nicht unbemerkt. Hier jedoch kamen höchsten Falles an Messetagen eine Million zusammen. Plötzliches Abhandenkommen von derart vielen Menschen fällt mit Sicherheit auf. Die meisten haben Angehörige oder arbeiten irgendwo. Da muss doch wer stutzig werden.
Nachher mal Nachrichten hören und in der Kneipe kann ich mich auch umhören. - Die zweite Fußgängerampel in breiter Verkehrsinsel sprang auf grün. Anderer Straßenseite Häuser ragten dunkel. Zur übernächsten Seitenstraße musste und wollte ich.
Unbemerkt zog während des Aufenthaltes im Chinarestaurant Gewitter heran. Blitze zuckten am Nachthimmel, durchschlugen Schwüle, begleitet von vernehmlichem Grummeln. Vereinzelt klatschende Tropfen sprenkelten Gehsteige fleckig. Voraus näherte eine sportlich wirkende Frau in dunklem Overall der Einbiegung angepeilter Seitenstraße.
"Scharfe Torte!" sagte ich leise anerkennend. Das Kleidungsstück verbarg keineswegs Umrisse. Vor erhellten Häuserwänden hob ihre ansprechende Figur deutlich ab. - Und dieser Gang! - Weitere Betrachtung gelang nicht. Mit ungeahnter Plötzlichkeit brach schlagender Unwetterregen nieder.