M. Manie's
K E I N E R
Eigentlich ist es hier draußen genau so stickig wie im Haus! befand er enttäuscht, als er vor die Tür trat und seinen Blick über die hügelige Landschaft schweifen ließ.
Eine grüne Landschaft mit Feldern, Feldwegen, hier und da Bäumen und Hecken. Genau genommen, eine weite Talmulde, deren sachte Höhen die übrige Welt aussparte. Sein Haus stand schier einsam auf bald voller Höhe der nördlichen Seite. Samt Frau und zwei Kindern wohnte er dort.
Seit wann? - Kein Gedanke!
Seine Frau war mit den Kindern außerhalb des Tals unterwegs. Sie wollte Einkäufe im nächsten Ort erledigen und danach eine Freundin besuchen. Gute Gelegenheit für die Kinder, den ganzen Tag mit gleichaltrigen zu verbringen. Sie wohnten hier ziemlich abgelegen, fast schon jenseits der Dinge.
Unwirkliche Stille belagerte jetzt alles. Außer eigenem Atem und Herz und dem Tapsen der Füße vorhin drang nichts in sein Ohr. Kein Vogelruf oder sonstige Alltagsgeräusche. Milchiger Himmel überspannte die scheinbar kleine Welt hier. Von Sonne keine Spur.
Deren Stand konnte man nur erraten. Und wüsste er es nicht besser, könnte eben so gut Vormittag oder Nachmittag sein. Vielleicht sogar Mittag? Kalt war es nicht. Im Gegenteil! Das Wetter jetzt durfte beinah schwül genannt werden.
Doch all dies machte ihm nichts aus. Falls doch, ändere das wenig. Und über Dinge, welche ohnehin sind, wie sie sind, dachte er nie nach. An Wetter und Welt konnte keiner was flicken. Nur daran, was man selbst tat oder andere. Oder daran, was man samt ihnen tun konnte. Und derzeit kam ihm Tun und Lassen anderer Leute seltsam vor.
Erstaunlich viele Leute wanderten im gesamten Tal und an dessen meist flachen, selten steilen Hängen. Etliche liefen einfach quer Beet, andere nutzten wohl aus Bequemlichkeit die hellen Bänder der Wege, welche wie Adern alles durchzogen. Teils liefen ganze Wandergruppen und -ketten, doch gut die Hälfte taperte einzeln einher.
Was ist denn jetzt los?
Doch seine Verwunderung schwand rasch. Ein unbekannter Zwang brachte auch ihn in Bewegung. Unbewusst setzte er einen Fuß vor den anderen. Immer bergab durch weite Wiesen an wenigen Büschen längs zur Talsohle.
Vorhin wollte er sich noch ein Brot mit Leberwurst schmieren. Leberwurst im Plastikdarm von Aldi oder Plus! Oder von Lidl oder Penny? Jedoch verging ihm in der Küche der Hunger. Es war eh nichts da, was ihn reizen könnte. Gedankenlos hielt er die offene kleine Leberwurst in der Hand, ging einfach damit raus und nun bergab.
Was würden Frau und beide Kinder dazu sagen?
Unten begegnete er zum ersten mal anderen, lief an ihnen vorbei, wie auch sie an ihm vorbei liefen. Keiner nahm den anderen echt wahr. Man wich sich aus, wie man sonst einem Hindernis ausweicht. Genauso in den schweigsamen Wandergruppen.
Diese fanden offenbar nur zusammen, weil sie in gleichem Schritt und Tritt gemeinsam die Wege nutzten. Kein Laut nirgends! Nur leiser Atem, Rascheln von Kleidung und sachtes Trappeln des Schuhwerks.
Wo wollen die alle hin? Hatten sie ein Ziel? Gab es denn eins?
Es schien nicht so. Doch er selbst könnte auch nicht sagen, weshalb er unterwegs war? Es war halt so und nicht anders. Er stellte es nicht in Frage, fragte auch keinen danach. Antwort hätte er sowieso nicht bekommen, wie auch er keine gegeben hätte. Wie denn, wenn man nicht weiß, wozu dies alles gut sei? Man tat es halt - und das war es.
Ohne Eile lief er mitten durch eine der Gruppen und verließ den Weg. Er folgte einfach seiner Nase über eine ansteigende Wiese aufwärts. Hinderlich hohes Gras flappte um Beine. Er beachtete es kaum.
Auf dem hohen Rand des Tals stand zwischen großen Bäumen eine alte Scheune. Eher ein großer Heuschober! Dort zog es ihn hin. Er war noch nie dort. Aber bewusst wählte er dies nicht als Ziel. Es gab keines. Wozu auch?
Mit erstaunlich wenig Mühe und nach unerwartet kurzer Zeit kam er an.
Fast ruckartig blieb er vor dem aus Balken und Brettern gezimmerten Ding stehen. Dämmerlicht umgab dessen Umrisse. Zurück zum Tal sah er nicht. Dort gab es sicher nichts neues. Die Leute würden nach wie vor ihres Wegs gehen, nicht sprechen, nur atmen, einander ausweichen und weiter laufen. Eine struppige Zeile Buschwerk sperrte sowieso den Blick zum Tal.
Hier oben war es, als käme man in eine eigene Welt. Eine sehr kleine, doch irgendwie beschauliche Welt. Und es gab andere Wesen darin. Zumindest raunten leise die riesigen Baumkronen, welche das Dach aus Schindeln weit überragten. Lästig aber lebend schwirrten ein paar Fliegen. Da und dort summte sogar was. Bienen oder Wespen?
Gewächse wucherten vor dem spaltbreit offenen Rolltor der windschiefen Scheune. Licht des milchigen Tages lugte hier und da durch Ritzen und Risse der von Wind und Regen grauen Bretter. Ringsum verteilt lagen und standen alte Gerätschaften. Eisern! Teils bedeckt vom Laub vieler Jahre, rosteten sie einsam bei den knorrigen Stämmen der Bäume. Teils wurden sie allmählich eins mit niedrigen Sträuchern, rotteten im feuchten Schatten. Leicht modriger Geruch wehte von ihnen her.
Rückkehr zum Ursprung?
Still stand er da, sah schräg aufwärts über das vom Alter gewellte Dach zum Himmel ohne Fleck und Sonne. - Fast so grau wie die Scheune! - Mücken und andere fliegende Winzlinge tanzten vor dem hellen Hintergrund. Irgendwo piepte ein Vogel. Mehrfach raschelte es kurz im Gebüsch. Mäuse?
Seine Betrachtung wurde fast zur Andacht. Doch trotz fehlender Sonne blendete ihn hier nach einiger Zeit das Tageslicht. Er kniff deshalb die Augen zu. Bunte Flecken hüpften nun hinter den Lidern, verblassten schließlich. Nachdem er sie wieder aufschlug, stampfte er durch zähes Gestrüpp zum Rolltor.
Viel hält es nicht mehr aus! stellte er mit raschem Blick fest. Weiter aufschieben könnte man das Ding nicht. Er mied tunlich jede Berührung damit und schlüpfte durch den neblig dunklen Spalt in die Scheune.
Zuerst sah er gar nichts. Nur das Licht des Tages fächerte durch Löcher im Dach und durch breite Risse der Seitenwände schräg herein. Dumpfer Raum! Es roch nach morschem Holz, altem Schmierfett und verrottetem Heu. Vorsichtshalber blieb er am Eingang stehen. Wer weiß, wohin oder worauf man sonst tritt? Wenig später erkannte er endlich Umrisse, dann auch Einzelheiten.
Hölzern morsch stand ein alter Leiterwagen mitten in der Scheune. Aufgebockt! Ihm fehlte eins der vier Räder. Dieses lehnte seitlich an einem Pfosten und harrte der Dinge, die niemals mehr kämen. Offenbar wollte wer vor endlosen Jahrzehnten das traurige Gefährt wieder in Stand bringen, gab dann aber auf. Schon vor einem halben Jahrhundert verwendete kaum noch jemand solche Wägen, die meist von starken Ochsen, selten von Pferden gezogen wurden. Was sollte man also noch damit?
Innen wirkte die übrige Scheune recht groß. Sie besaß sogar eine Empore, worauf früher dicke Stroh- oder Heuballen lagerten. Auch jetzt gab es dort noch welche. Sie waren aber so verrottet, dass ohne näheren Augenschein niemand sagen konnte, was das dort oben wirklich sei? Er wollte es auch nicht wissen.
Riecht ja bis hier hin übel! murrte er still.
Wahrlich fette Spinnweben überdeckten alles. Sie hingen sogar in langen Strähnen vom First, bildeten fast Vorhänge aus schmutzigen Flocken. Dicker Staub und vom Wind herein gewehtes Laub lagerte auf dem restlichen Unrat ringsum.
Hier gab es nichts mehr, was irgendwie noch brauchbar wäre. Selbst der Leiterwagen bräche bestimmt zusammen und auseinander, sobald man ihn bewegt. Nur ein sehr dickes Tau, das von einem Querbalken herab über dem Leiterwagen hing, schien etwas neuer und nicht faulig.
Wieso hängt es ausgerechnet da? - Er ging näher, stieß dabei an den Leiterwagen.
Bedrohlich ächzte das alte Holzgerippe. Doch es hielt den keineswegs leichten Stoß erstaunlich gut aus. Standfest! Sachte kletterte er auf die schmale Fläche aus staubigen Brettern, prüfte erst, ob da nichts gleich bricht?
Hörbar knarrte und knackte das Holz. Staub wirbelte auf. Aber keine Latte krachte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, dann erreichte er das Tau.
Es baumelte mit beiden Enden herab, genau auf Augenhöhe. Er griff danach, befühlte es eingehend. Krümel bröselten davon in seine Hand und auf die Hosenbeine.
Trockene Brösel!
Er beschmierte beide Enden des Taues mit Leberwurst und fragte sich: Ob Nachbars Kinder das mögen? - Mal abwarten!
Und er wartete...
© M. Manie 2008.06.05 Daheim Brief?