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Abermal, Kapitel 16, Seite 05

flackert


"Sag' es ruhig: Seitdem dein Bruder tot ist!" Rudolf Welzer nickte nur, stierte in eine Ecke. Gerd setzte leise nach: "Du hast es einfach in dich reingefressen, konntest es nicht rauslassen, hast dich immer weiter in dir selber verkrochen. Und das war die Veränderung, mit der wohl auch die Juliane dann nicht klarkam."

Rudolf lehnte bei Gerd an, senkte den Kopf. "Ich fühl' mich so widerlich, weil ich vor, bei und nach der Beerdigung nicht eine einzige Träne geweint habe. Dabei habe ich meinen kleinen Bruder lieb gehabt. Aber es ging einfach nicht. Alle haben bestimmt gedacht, ich sei ein gefühlloser Klotz. Juliane sagte es zwar nicht, aber sie deutete es an."

"Was, dass du deshalb ein gefühlloser Klotz seist? Was für ein Blödsinn! Das kommt doch öfter vor, dass Menschen vor lauter Trauer keine einzige Träne loswerden können. Das ist dann viel schlimmer, als wenn man sich richtig ausweint. Hat die das wirklich so gemeint?"

"Ja, aber nicht ganz. Sie hat es mir so zu verstehen gegeben. Natürlich sprach sie es nicht direkt aus. Ich weiß aber, dass sie genau das meinte."

"Also..." begann Gerd Wesseling langsam. "Wenn das kein Missverständnis ist, dann sei froh, diese Juliane los zu sein. Wenn da jemand gefühllos war, dann eher sie, als du."

"Das Verrückte ist, sie hat mich deshalb sogar bewundert, meinte einmal, dass sie es ganz toll findet, wie selbstbeherrscht und gefasst ich wäre. Genau das fand ich so fürchterlich. Ich konnte mir ausmalen, wenn wir später verheiratet sind, dass sie immer von mir erwartet, keine richtigen Gefühle zu zeigen. Ein Mann weint nicht! Ich konnte mir vorstellen, sie will mit gefühligem Liebesgerede vollgesülzt werden, will aber nur einen Kerl, dem sie die Ohren vollheulen darf. Aber für ihn hat sie kein Ohr, wenn's nicht gerade um sie oder um irgendwelchen Sülz oder um die Kinder geht. Sie darf, aber der Macker nicht. Scheiße!"

"Tja, lieber Rudi, leider ist das so. Ich kenne das auch. Meine Brigitte ist da zwar ein wenig anders gestrickt, aber von den allermeisten anderen Frauen kenne ich so was. Wenn du als Macker eine Schwäche zeigst oder sogar mal heulst, weil dir danach ist, dann bist du für die ganz einfach nur eine Memme. Haben uns doch schon unsere Mütter so eingetrichtert. Spätestens als wir über vierzehn waren, dachten die gar nicht mehr daran, die Tränen von den Jungs hinzunehmen, haben sogar darüber gemeckert."

Rudolf Welzer nickte. Noch immer lehnte er leicht an seinem Trainer und Vereinsfreund, sah starr zu Boden. "Ich glaube, es lag daran, dass Juliane merkte, wie grässlich ich das fand. Und deswegen hat sie Schluss gemacht. Ich hatte sie nämlich angefahren, das sei alles Käse, ich könne einfach nicht weinen, wüsste auch nicht, warum es nicht geht. Als ich ihr klarmachte, nichts sei mir lieber als ein Heulanfall, und dass ich auf diese übliche Vorstellung der Frauenzimmer von Männern pfeife, sah sie mich ganz komisch an. Danach muss es aus gewesen sein."

"Ich kann mir vorstellen, Rudi, dass es jetzt kein sonderlicher Trost für dich ist, aber darüber, dass diese Juliane sich davonmachte, kannst du eigentlich froh sein. Schreckliche Frau! Wenn meine Brigitte so wäre, dann würde ich mich trotz Kinder einfach scheiden lassen. Meine Güte, was für eine scheußliche Vorstellung, mit so einer sein Leben umbringen zu müssen!"

"Manchmal habe ich schon überlegt, ob es nicht besser wäre, schwul zu sein."

"Ob das besser ist, möchte ich wirklich sehr bezweifeln, Rudi. Außerdem, du als Tucke, in Weiberklamotten und diesem ganzen doofen Getue?" Gerd lachte. "Das wäre wirklich scheißeblöd!"

"Wir wälzen uns mit anderen Männern herum, haben es mit dem einen oder anderen Sportskameraden schon sonst wo getrieben. Du kennst das doch, weißt doch, was in der Umkleide manchmal abgeht oder in den Duschen oder anderswo. Keiner von uns hat irgendwelches weibisches Getue."

"Das ist doch aber was ganz anderes, Rudi. Das ist Sportsgeist und Kameradschaft! Wir reagieren uns nach der ganzen Anspannung ab, haben aber immer unseren Trieb nach den Frauen. So was ist doch nicht wichtig. Im Gegenteil, Rudi!"

"Ach, lassen wir das!" wehrte Rudolf ab. "Mir ist es nur mal immer wieder im Kopf rumgegangen, seitdem die Juliane..." Er unterbrach, sah Gerd Wesseling scharf an und fuhr nachdrücklich fort: "Aber irgendwie ist das doch verlogen: Sportsgeist, Kameradschaft, Abreagieren! Du gibst dem Kindchen einfach einen anderen Namen und bildest dir ein, dann sei es auch was anderes. Bloß, das stimmt überhaupt nicht, ist einfach Quark! Man lügt sich selber einen in die Tasche, wie auch bei vielen anderen Sachen. Das ist doch blöd, weil's einfach nicht wahr ist."

"Du bist nachdenklicher geworden, Rudi. Das ist bestimmt keine schlechte Sache. Du kommst jetzt in das Alter, wo man die Dinge nicht mehr so schwarzweiß sieht, weil sie eben nicht so einfach liegen, wie man als Kind oder Jugendlicher gern geglaubt hat oder einem weisgemacht wurde. Aber andererseits, darfst du dich auch nicht vergraben, dich von allem abschotten. Das Leben geht weiter und es ist, wie es ist, vergiss das nicht!"

"Aber ich kann nicht so einfach über die Sachen hinweggehen. - Ich habe seine Augen gesehen." Rudolf Welzers hauchte letzte Worte nur, als fürchte er, sie gelangen sonst in falsche Ohren.

"Seine Augen? Was für Augen? Die Augen von wem oder von was?" Gerd Wesseling verstand unerwarteten Gedankensprung nicht.

"Die von Herbert, meinem kleinen Bruder."



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