Nachdenklich nahebei abgestellten Wagen bestiegen. Allerdings fuhr ich nicht zum Haus meiner Eltern, sondern ziellos in der Gegend herum. Die kleine Stadt auf einer neuen Ausfallstraße verlassen und über Land gesteuert.
Vorhin beschlich in der alten Schule gespenstisches Empfinden. Als berühre etwas, womit man gewöhnlich nicht in Verbindung kommen will. Aber solche Zwingburgen haben ohne ihr wuselig gewohntes Leben stets etwas von Geisterhäusern. Und diese Zwingburg war auch noch augenfällig groß gebaut. Ein Mordskasten, in mehrfachen Fluchten angelegt! Man konnte darin herumirren, im Heizungskeller versehentlich eingeschlossen werden und dort langsam verdorren. Niemandem fiele das so schnell auf. Irgendwann fände man eine Mumie zwischen Leitungsrohren, verärgert über die Unbotmäßigkeit, weil dies doch keine amtlich zugelassene Grabstätte sei. Und dann auch noch ohne vorschriftsmäßigen Sarg. - Schrecklich!
Unruhe wühlte seit dem Gespräch. - Weshalb eigentlich? Jahrelang dachte ich nicht mehr an damals, wollte nur ein bisschen nach meinen 'Wurzeln' schauen, in Erinnerungen schwelgen. Und nun? - Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt!
Selbst beste Freunde aus alten Schulzeiten schwanden allmählich aus dem Gedächtnis, wenn auch nie völlig. Ihr Äußeres wurde nach und nach unklarer. Kein Wunder, nach so langer Zeit. Jetzt sah ich unablässig die Gesichtszüge jenes einen Kameraden vor mir, dessen Bewegungen, hörte wieder seine Stimme, sein Lachen. Weitgehend gleich groß, unterschieden uns damals höchstens ein bis zwei Zentimeter in Höhe. Allerdings wirkte er feingliedriger, weshalb man leicht auf falschen Gedanken kam, er sei so etwas wie ein Fliegengewicht. Einige Raufbolde mussten herb erfahren, wie wenig ihre Muskeln bei einem viel flinkeren und gewandteren Gegner nutzten.
Übermäßig hochbedeutend waren jene Ereignisse vor reichlich dreißig Jahren nicht, obwohl sie monatelang für genügenden Gesprächsstoff sorgten. Anlass zu wildesten Gerüchten und Vermutungen.
Einige unheimliche Todesfälle zerrissen stickige Schleier kleinstädtischer Belanglosigkeit. Zwei davon in verhältnismäßig kurzer Folge. Und dann verschwanden plötzlich zwei Bewohner unserer kleinen Stadt ähnlich rätselhaft. Genaugenommen verschwanden drei Leute spurlos vom Erdboden. Aber das erfuhren wir erst später. Niemand fand je eine Erklärung dafür oder für die Todesfälle. Keiner der Verschwundenen tauchte jemals wieder auf. Fast so, als habe es sie nie gegeben. Traumgestalten, nach mehr oder minder gutem Erwachen verflüchtigt, vergessen. Von Erfried Gundeleits Familie wohnte hier längst niemand mehr.
Über Stunden gedankenverloren unterwegs, verrann unmerklich Zeit. Vom Turm der großen Kirche am Marktplatz schlug es halb sieben Uhr abends, als ich vor dem Haus meiner Eltern einparkte. Eilig trabte ich ins Dachgeschoss in mein Appartement.
Vor vier Jahren ließen mein älterer Bruder und die Eltern das Dachgeschoss ausbauen. Ich bat um kleine Bleibe für meine seltenen Besuche. Keiner äußerte Einwände, zumal ich alle Kosten großzügig übernahm. Die meiste Zeit des Jahres blieb das Appartement unbewohnt. Eineinhalb Zimmer mit kleiner Junggesellenküche, Dusche und Toilette. Aber alles sehr neu und bequem und fürchterlich modern. Sogenanntes Wohnklo, wie man es in erheblich bescheidenerer Ausführung aus Studienzeiten kannte. Hier allerdings bei weitem nicht so beengt. Angenehm geräumig heller Wohnraum unter beidseitigen Dachschrägen.
Mit meiner eigenen Familie wohne ich seit Anbeginn in Wetzlar, arbeitete zuerst auch dort. Zugegeben, ein ziemliches Kaff, sogar Stuttgart ist aufregender. Aber, man schlage mich tot, ich fühle mich da wohl! Meine liebe Frau ist aus Wetzlar und erfolgreiche Wirtin, betreibt aus Leidenschaft eine eigene Feinschmeckerstube der Sonderklasse. Wir lernten uns nach zwei Jahren meiner Ingenieurstätigkeit näher kennen und lieben, heirateten wegen ausreichender Gemeinsamkeiten aus vernünftigen Gründen. Drei Kinder.
Eilig traf ich einige Vorbereitungen für meinen mit Spannung erwarteten Besuch, ließ unaufgeräumte Sachen hinter Vorhängen oder irgendwelchen Schranktüren verschwinden. Glücklicherweise befüllte ich vormittags den kleinen Kühlschrank leidlich. Seit einem Jahr stand noch angebrochene Flasche besten Cognacs darin. Eine Flasche Trollinger fabelhaften Jahrgangs musste auch irgendwo lagern. Selber mag ich Wein weniger, halte mich lieber an ausgefallene Teesorten. Verhungern oder verdursten würde niemand. Zur Not konnte ich ja die Kühlschränke meiner Eltern und der Familie meines Bruders plündern. Als ich etwas gehetzt zur Uhr schaute, zeigte sie schon knappe Minute vor sieben. Ich tobte Treppen hinunter, ließ oben alle Türen einfach offen.
Im Erdgeschoss schaute mein Bruder aus einem Türrahmen. "Wo hast du denn den ganzen Tag gesteckt?" wollte er wissen. "Mutter hat schon nach dir gefragt. Schließlich bist du nicht oft hier."
"Erzähle ich dir später. Jetzt bekomme ich gleich Besuch."
"Wenn's Damenbesuch ist, dann sei bitte diskret, damit wir Gerti (meine Frau!) nicht unnötig beschwindeln müssen." Er grinste unverschämt in seiner netten Art. Wir verstanden uns prächtig.
"Das ist kein solcher Damenbesuch, sondern ein jüngerer Herr!"
"Auch das noch! Ich wusste gar nicht, dass du auf deine alten Tage jetzt neue Vorlieben entw..."
"Halt die Klappe, du Quatschkopf!" drohte ich scherzhaft. Er lachte laut und verschwand.