Auf Erfrieds Frage nach den seltsamen Runenzeichen im Gewölbe unten, erklärte Werner Lübbers: "Das ist ein Weisheitsnetzwerk und uralt. Schon für die früheste Bronzezeit können Runenzeichen als magische, als Zauberzeichen im Abendland nachgewiesen werden. Also, vor über viertausend Jahren. Man fand sie auf Waffen und Schmuckstücken oder in Felszeichnungen rings um die Nord- und Ostsee. Zumeist einzeln darin eingearbeitet. Dazu zählt auch das leider viel missbrauchte Hakenkreuz, das sogar weltweit bei anderen Völkern des Altertums gebräuchlich war. Heute noch spielt es in Asien eine große Rolle. Bei den Buddhisten zum Beispiel. Und die sind keine Nazis!
Magie, also Zauber, war in alten Zeiten dasselbe, wie heute Wissenschaft. Man verstand sie nicht anders, sondern gleichermaßen, wie unsereins akademische Bildung. Zauber oder Magie bedeuten im Grunde nur das Wissen um verborgene Wege. Ob es mit uns bekannten Naturgesetzen im Einklang steht, war und ist ohne wirkliche Bedeutung. Bloß weil man eine Abfolge nicht erklären kann, widerspricht sie ja nicht notwendigerweise einem Naturgesetz. Das ist eine dumme Ansicht! Es zeigt nur, dass sich schlau und gebildet wähnende Herrschaften, eben ganz und gar nicht so schlau sind, wie sie es gerne darstellen wollen.
Die Runen fußen auf der Grundzahl Drei und beanspruchen stets die Verdreifachung. Aller guten Dinge sind drei! Es gibt unterschiedliche Runenreihen von sechzehn bis sechsunddreißig Zeichen. Die gebräuchlichste ist die vierundzwanzigteilige. Sie entspricht ungefähr unseren lateinischen Alltagsbuchstaben und wurde auch vielfach so verwendet. In der Wulfilas-Bibel, vor rund tausendfünfhundert Jahren beispielsweise. Leider sind fast alle anderen Schriftzeugnisse absichtlich vernichtet worden.
Unsere Vorfahren benutzten ein Zahlensystem mit der Einheit Zwölf. Die doppelte Sechs, welche die doppelte Drei als Grund hat und aus einem beliebigen Kreis sehr einfach hergestellt werden kann. Der Halbmesser eines Kreises teilt den jeweiligen Kreisumfang stets in sechs genau gleiche Abschnitte. Diese sechs Stellen ergeben miteinander verbunden drei Kreisspeichen, die Grundrune 'Hagal'. Der Kreis ist Zeichen des Unendlichen.
Hier kannst du auch schon den Zusammenhang mit Raumlehre, Geometrie, und mit Rechenlehre, Mathematik erkennen. Aber auch in die Musik reicht es hinein, weil jede Rune einen Klang darstellt, der ihre Wirkung ausmacht. Somit besaß man schon lange Zeit vorher etwas ganz ähnliches, das erst viel später als neuzeitliche Notenschrift ausgefeilt in Umlauf kam. Jede Rune stellt zugleich einen ganzen Gedankengang dar und eine Gesetzlichkeit. Es handelt sich also um ein sehr umfassendes Gedankengebäude des Wissens, welches nicht zuletzt die gesamte Natur und alle geistigen Ebenen erfasst.
Im Gegensatz dazu, verwendeten die Morgenländer stets die Zehn als Recheneinheit. Wahrscheinlich, weil sie lieber mit ihren Fingern rechnen wollten, wie heute noch im Kindergarten, anstatt die geschlossene oder flach gestreckte Hand als Hälfte, als Zahl Sechs begreifen. Zwölf ist nämlich wesentlich besser zum täglichen Rechnen geeignet, weil durch zwei, drei, vier und sechs teilbar, zehn nur durch zwei und fünf. Hundert ist nach der Zwölfrechnung zwölfmal zwölf, also in Zehnerzählung hundertvierundvierzig. Tausend ist danach also zwölfmal Hundert. Und so weiter."
"Und woher stammen die Runen? Sind sie wirklich germanisch?" wollte Erfried wissen.
"Jaein!" lächelte der düstere jüngere Herr. "Ihr Ursprung liegt im Nebel der Zeit. Sie sind jedenfalls nicht keltisch, wie einige Schlaumeier weismachen wollen. Nachweislich haben die Kelten die Runen erst sehr spät von den Germanen übernommen. Ob jene ihre Erfinder sind, die wir als ursprüngliche Germanen bezeichnen, kann nicht sicher behauptet werden. Aber sie waren es, welche die Runen bewahrten und am meisten nutzten, weshalb man billiger Weise davon ausgehen darf, dass diese auch deren Erfinder waren. Aus der römischen oder griechischen Schrift sind sie bestimmt nicht hergeleitet, weil es diese Schriften in der Bronzezeit noch lange nicht gab. Da könnte man eher annehmen, es sei umgekehrt gewesen. Phönizischer Herkunft können sie aus gleichen Gründen ebenso wenig sein. Zudem war in der Bronzezeit im nördlichen Mitteleuropa von Phöniziern weit und breit nichts zu sehen. Ägypten fällt sowieso völlig flach, wegen der dort verwendeten Hieroglyphen und weil die abendländische Alltagskultur von Ägypten kaum berührt wurde. Weder früher, noch später. Auch wenn einige alberne Schwärmer es gern so haben wollen: Es ist Quatsch! Durch die griechische Eroberung ist Ägypten eher abendländisch beeinflusst, denn umgekehrt."
"Von all dem weiß ich reichlich wenig", gestand Erfried beeindruckt.
"Das wird sich ändern, junger Freund!" lachte Werner Lübbers düster. "In deiner Ausbildung zum Wächter wird dir deshalb noch ganz gehörig der Kopf rauchen. Leider wird dir das nicht erspart werden können. Aber du wirst es bestimmt mit Leichtigkeit bewältigen. Du bist wissbegierig und hast einen sehr wachen Verstand, Erf!"
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