"Ist mir das peinlich, meine Herren! Ich fand an unserer Haustür diesen Zettel vorhin kleben, als ich vom Haus der Meinrads zurückkam. Aber vorher hing er dort noch nicht. Zum Lesen war es zu dunkel und ich doch so aufgeregt... Jedenfalls steht hier alles so, wie sie mir eben sagten, junger Mann. Die Herrschaften und ich haben uns einfach verpasst. Ich sah auch ein wartendes Auto, in das zwei Personen einstiegen und wegfuhren, dachte mir nichts dabei. Tut mir leid, für das dumme Missverständnis!" Sie zeigte beiden Beamten den etwas mitgenommenen Schrieb
Bedächtig wiegte der ältere Polizeibeamte den Kopf während er die knappen Zeilen las. "Dann scheint ja alles in Ordnung." Er reichte das verknautschte Blatt Papier zurück. "Ihr Sohn ist also bei den Ronnburgleuten. Soso!"
Eleonore Gundeleit fiel abermals merkwürdiger Unterton auf. "Sie sagen das auf eine eigenartige Weise, mein Herr. Schon die Frau Meinrad äußerte sich vorhin etwas erstaunt. Was ist denn eigentlich mit diesen Herrschaften? Gibt es da etwas, das bedenklich stimmen sollte?"
"Rein amtlich, selbstverständlich nichts, verehrte Frau. Gegen diese Herrschaften liegt keinesfalls etwas vor. Darin können sie ganz versichert sein." Halb abgewandt blickte er zurück, schien unsicher, was er sagen sollte.
"Rein amtlich, sagen sie", bemerkte Eleonore Gundeleit gedehnt. "Und wie ist es mit nichtamtlich?"
"Ach, das sind etwas eigentümliche Leute...", platzte der junge Polizist heraus.
"Reden sie bitte nicht über Dinge, die dienstlich keinen Belang haben, Kollege!" unterbrach der Ältere verweisend.
"Na, Kollege, das sind doch aber auch reichlich ungewöhnliche..."
"Das ist deren Privatangelegenheit! Darüber haben wir als Beamte nur zu befinden, wenn es den Verdacht zulässt, es gäbe damit Gesetzesverstöße!" schnitt er dem jungen Polizisten wiederum Worte ab. Fast barsch.
"Lieber Herr, nun fahren sie doch ihren jungen Kollegen nicht an", mahnte Eleonore Gundeleit versöhnlich. "Immerhin scheinen sie mehr zu wissen oder zu vermuten, als sie sagen möchten. Wenn schon nicht amtlich, dann sagen sie doch bitte ihre persönliche Ansicht. Ich werde sie bestimmt nicht verpetzen. Außerdem, wenn sie nur ausdrücklich ihre ganz private Meinung sagen, dann werden sie das doch dürfen. Oder sind Beamte etwa keine Menschen wie wir alle?"
"Ja, schon, verehrte Frau. Aber im Dienst sollte man nicht private Meinungen gegenüber Bürgern äußern", beschwichtige der ältere Polizist und knuffte den jüngeren Kollegen kameradschaftlich. Dieser grinste, kannte seinen Vorgesetzten.
"Was ist denn mit diesen Ronnburgleuten? Sie machen es so spannend, dass man ganz unheimliche oder gefährliche Dinge vermuten könnte." Eleonore Gundeleit stützte ihre Hände auf den Wachstubentresen, machte deutlich, sie schweige über vertrauliche Worte.
"Es könnte vielleicht Anklänge an Unheimliches haben." Der Beamte wiegte zweifelnd den Kopf, sprach gedämpft. "Aber das kann auch alles nur uralte Gerüchteküche sein, Latrinenparolen aus etlichen langen Jahrhunderten, wenn nicht weitaus mehr."
"Was wollen sie denn damit ausdrücken, guter Mann? Klingt ja nachgerade historisch und tief bedeutungsvoll."
"Also, gnädige Frau, ich möchte unbedingt vorausschicken und betonen, dass die Familie Perchten vollkommen unbescholten ist, was das polizeiamtlich Kriminologische angeht. Gegen diese Herrschaften wird in keiner Weise ermittelt, noch liegen irgendwelche strafrechtlich relevanten Verdachtsmomente vor. Darum geht es auf keinen Fall! Und wer ist denn schon in seinem Leben mit dem Gesetz vollständig konform gegangen? Ganz streng genommen, hat jeder was auf dem Kerbholz, eine mehr oder minder bedeutende Leiche im Keller oder mehrere. Ich will mich da gar nicht mal ausnehmen. Allein während des Krieges und in der Nachkriegszeit war es nicht immer machbar, das Gesetz in allen Einzelheiten zu beachten, wollte man nicht darben oder einfach nur dumm sein."
"Wem sagen sie das?" lachte Eleonore Gundeleit. "Allein die 'Organisiererei' überschritt regelmäßig Gesetzesgrenzen, wenn auch nicht zum Verbrechen hin. Da waren wir doch allesamt keine Unschuldsengel. So gesehen, habe auch ich Straftaten anhängen. Einen ganzen Rattenschwanz womöglich. Aber bitte, fahren sie fort."
"Schön, Gnädigste, dass wir uns verstehen", lächelte der altgediente Schutzmann aufgetaut. "Also, wegen falschem Parken oder urinieren gegen Hausmauern oder betrunkene Ruhestörung brauchen wir keine weiteren Worte verlieren. Das ist sicher alles sehr unanständig und ärgerlich, aber kein arges Vergehen oder gar Verbrechen. - Sehen sie, Gnädigste, die Sache mit der Familie Perchten von der Ronnburg ist deshalb so... hm... eigentümlich, weil sie die wohl älteste Sippe hier sind und keinerlei private Verbindungen zu anderen Leuten in der Stadt oder der näheren Umgebung pflegen. Offensichtlich nicht wollen. Die Grafen von Dahlendorf machen und machten da keine Ausnahme. Man kennt sich, respektiert sich, und das war es dann auch schon."