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Abermal, Kapitel 02, Seite 04

flackert


"Ja?"

"Es klingt sicher verrückt...", zögerte Dr. Wappler immer noch.

"Ich habe noch nie den Eindruck gehabt, Herr Doktor, sie könnten irgendwie verrückt sein."

"Nun, jedenfalls kann man so etwas nicht auf einen Totenschein oder in einen Obduktionsbefund schreiben..."

"Was denn, Herr Doktor?"

"Mein junger Kollege vom Amt und ich konnten uns des Eindrucks nicht erwehren, der arme Junge habe sich ganz einfach zu Tode geängstigt. Er könnte vor irrwitziger Angst gestorben sein."

"Hatte er denn etwas am Herzen?"

"Ganz sicher nicht. Der arme Junge war zu seinen Lebzeiten kerngesund."

"Also, kein Herzschlag oder ein Kreislaufzusammenbruch?"

"So etwas in der Art muss es schon gewesen sein. Nur, dass die Ursache dafür nicht in angegriffener Gesundheit oder anderen inneren Schäden liegen kann."

"Was kann so etwas verursachen, Herr Doktor?"

"Eigentlich nichts von dieser Welt..."

"Wie bitte? Ich verstehe jetzt nicht ganz, Herr Doktor."

"Ich leider auch nicht, liebe Frau Gundeleit. Ich habe als streng wissenschaftlich Gebildeter keine schlüssige Erklärung. Und mein jüngerer Kollege vom Amt auch nicht, weshalb er sich ja auch so nüchtern kurz ihnen gegenüber äußerte."

"Wir sind aber allesamt nicht nur streng wissenschaftlich gebildet, Herr Doktor. Sonst kämen sie ja nicht auf besagte Gedanken."

"Sie nehmen mir die Worte aus dem Mund, Frau Gundeleit." Er schwieg erst, bevor er langsam weitersprach. "Sie waren doch auf der höheren Töchterschule und kennen bestimmt die Sage von der Medusa, nicht wahr?"

"Allerdings. Im altgriechischen Original sogar. Wollen sie damit versteckt andeuten, so eine Sagengestalt habe hier...? Ist das nicht ein bisschen zu phantasievoll?"

"Da haben sie natürlich völlig recht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es die Medusa als solche tatsächlich gegeben haben mag oder überhaupt gibt. Aber in allen Märchen und Sagen steckt ein wahrer Kern. Die Todesarten ähneln sich frappierend."

"Mortus Medusa? Sie meinen, diese Sage beschreibt in Gestalt des Ungeheuers Medusa den Tod aus reinem Schrecken? - Hm...! So verstanden, ist das gar nicht mal sonderlich abwegig. Ähnliches gibt es doch auch in der germanischen Sagenwelt. Nur ist es da ein übelwollender Riese, dessen Blick zu erwidern, alles und jeden zu Eis oder Stein erstarren lässt. Mir fällt sein Name jetzt leider nicht ein..."

"Mir auch nicht, liebe Frau Gundeleit, aber ich erinnere mich genau, dass in dieser altgermanischen Sage von verschwärzten Augen berichtet wurde. Und Riesen sind in der Vorstellungswelt unserer Altvorderen nicht wirklich körperlich riesenhafte Wesenheiten gewesen, sondern Sinnbilder von Wirkkräften riesenhaften Ausmaßes. Auch sogenannte Elementarkräfte wurden dem einfacheren Verständnis halber als Riesen oder Riesinnen benannt."

"Aber was um alles in der Welt könnte eine solche Wirkung ausüben?"

"Tja, liebe verehrte Frau Gundeleit, da tappen wir vorerst allesamt im Dunkeln."

Eleonore Gundeleit barg ihr Gesicht in beiden Händen und sagte leise mit erstickter Stimme: "Oh Gott, was sollen wir denn nur tun?"

"Halten sie mich bitte nicht für herzlos, wenn ich allen anrate, dass erst einmal der Alltag ganz normal weitergeführt werden sollte. Auf diese Weise gelingt es unserer gequälten Seele besser, nach und nach auch den schlimmsten Schrecken zu verarbeiten, liebe Frau Gundeleit."

Sie sah auf, wischte tapfer Tränen fort und nickte kurz zustimmend. "Nein, Herr Doktor, das ist nicht herzlos, sondern ganz vernünftig. Sie haben damit vollkommen recht. Machen wir also vorerst ganz normal unsere alltägliche Arbeit."

Eleonore Gundeleit stand auf und verließ das Arztzimmer, begann mit ihrer Arbeit, putzte die Praxis gründlich, brachte sie für kommenden Tag auf Vordermann. Währenddessen suchten ihre Gedanken nach Erklärung des entsetzlichen Geschehens, so gut es eben gelingen wollte. Freilich gelang es ihr nicht.

Wie sollte sie auch, wenn nicht einmal Ärzte verstehen? dachte sie niedergedrückt. Hauptsache, man lässt andere Menschen in ihrem fürchterlichen Schmerz nicht allein. Selbst ohne Worte der beste Trost in all dem Unfassbaren.



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Mannie Manie © 1999
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