Wieder stiegen drängende Erinnerungen und dunkle Verdachte hoch. Erfried schüttelte aufkommende Beklemmung ab und schaute woanders hin. Sein Blick suchte Ingomar, konnte ihn im Gewühle nicht finden. Irgendwo dazwischen musste er stecken. Vielleicht verließ er den Raum, nachdem die Gesprächsrunde gratulierend auseinander ging. Nachdenklich stand der Junge inmitten des Trubels ihm so nicht geläufiger Frohlaune, sank langsam auf einen freien Stuhl.
Andere Gäste des Hauses lenkten ab. Nacheinander verwickelten ihn verschiedene Leute in Gespräche, entführten in Runden, deren Frohsinn alle Bedenken wegwischte. Man reichte Erfried richtiggehend herum. Beständig suchte Gundram seine Nähe, ließ ihn nie aus den Augen. Sie wechselten jedoch nur wenige Worte miteinander, ständig unterbrochen oder abgelenkt von anderen Teilnehmern der Gesellschaft. Unmerklich verflog Zeit.
Welche Quelle nährte, hier sei etwas nicht, wie Anschein vorgab? Unausgesetzt flimmerte es ständig im Untergrund herum, ließ keine Ruhe.
Alle sehr höflich, zuvorkommend und überaus liebenswürdig untereinander und zu Erfried. Niemand zankte oder trank zuviel, obgleich man weingeistigen Getränken durchaus freudig zusprach. Niemand fiel aus dem Rahmen. Der Trinkgenuss kannte Grenzen. Niemand wurde ungebührlich laut oder riss gar Zoten. Dabei führten sie ihre Unterhaltungen keineswegs leise oder gedämpft, sondern teilweise äußerst lebhaft über alle möglichen und unmöglichen Bereiche. Darunter auch Gesprächsinhalte, welche bei Gundeleits als 'unerörterbar' galten. Man bewies Manieren im Haus bei der Ronnburg.
Dennoch! Irgendetwas ist falsch hier! - Dumpfes Wissen schürte Unbehagen und Unruhe. Freilich, alle versammelten erschienen als sehr nette und aufgeschlossene Leute, führten angeregte Gespräche und feierten. Sogar einen Philosophen gab es hier, jenen älteren Herrn in der Gesprächsrunde mit Ingomar am Anfang.
Feiern? Was wurde eigentlich gefeiert? - Keiner gab auch nur leisesten Hinweis auf den Anlass dieser Geselligkeit, sah man von jenem Geburtstagskind ab, welches man hochleben ließ.
Deshalb? - Dies hier machte eigentlich nicht den Eindruck einer Geburtstagsfeier, schon gar nicht, wegen jener Person. Dazu geschah das vorhin etwas beiläufig, wenn auch nicht gering achtend. Auf seltsame Weise erschien alles makellos. Zu makellos! Oder lag es einfach nur am ungewohnten Gesellschaftskreis?
Aber seine Mutter erzählte, bei ihnen Zuhause in Westpreußen durfte man bei Feierlichkeiten durchaus angemessen über Stränge schlagen. Viel konnte Großbauern oder Gutsleute aus dem Osten von alten Familien hierorts nicht trennen. Wovon sprach Herwig Perchten, der Hausherr, als er seine Bemerkung über die 'vielen Leben' seltsam nachdrücklich fallen ließ? Unverkennbar von allen verstanden. Nur Erfried verstand nicht. Sollte er nicht verstehen? Jedenfalls erfolgte von da an deutliche Änderung. Nicht allein wegen einsetzender Klaviermusik und nachfolgender Gratulationsorgie, woran alle begeistert teilhatten.
Siedend fiel ihm ein, beim Eintreffen am Gattertor lauschte er in den riesigen Garten und zum Haus nach Anzeichen von Leuten. - Kein Laut drang an seine Ohren! Nichts! Erst nachdem er hinter Gundram im Hausflur, im Vorraum des Hauses ankam, erklangen Stimmen vieler Besucher. Nicht eher! Und behauptete Gundram nicht, niemand käme vorerst in die Wasch- und Toilettenräume, ins Bad im hinteren Flur? - Gut, es gab auf jeden Fall noch andere Waschräume und Toiletten, bevorzugt von Gästen, ganz bestimmt auch in oberen Stockwerken. Aber bei dieser Anzahl, bei so vielen Leuten? Weshalb sollten sie ausgerechnet nähergelegene Möglichkeiten meiden? Weil sie davon nichts wussten? - Völlig unwahrscheinlich! befand Erfried und seine Unruhe stieg weiter.
Wieder spürte er brennende Blicke, sah ruckartig hoch... verwirrt. Gundram entdeckte er nirgends. Dessen Blick also auf keinen Fall! Sonst streiften ihn nur flüchtig andere Augen, zumeist gefolgt von betont freundlichem Zunicken. Woher kam dieses unangenehme Gefühl? Wer oder was beobachtete ihn? Sicher spürte er, ganz sicher, jemand beäuge aufmerksam und unausgesetzt seine Bewegungen. Doch von wo aus? Wer vermochte das derart unauffällig? Gundram?
Dieser wenig ältere Junge wurde ihm langsam unheimlich. Da half auch dessen angenehm gezeichnetes Gesicht nichts, machte die Sache noch ärger. Er schaute zu den Fenstern und bemerkte erstaunt nahen Abend. Es dämmerte draußen. Wie im Fluge verging hier Zeit. Wie spät mag es sein? Sein Blick schweifte im weitläufigen Wohnraum. Das Pendel der Standuhr ruhte. Stehen geblieben! Erstaunliche Nachlässigkeit in diesem Haus. Fernes Zifferblatt in einem Regal: Viertel nach acht! - Das ist doch nicht möglich! Wie konnte das denn sein? Er glaubte an kaum viel mehr als zwei Stunden im Perchtenhaus.
Dann muss ich mich auch langsam auf den Weg machen! Im Dunkeln mag ich nicht nach Hause gehen. Außerdem sagte Mama, ich solle um neun Daheim sein. Sie hätte sicher nichts dagegen, wenn ich länger fort bleibe oder bei Freunden übernachte. Aber sie wusste nichts davon und machte sich irgendwann irrsinnige Gedanken. - Meine Schmöker und meine Sachen! Die muss ich erst aus dem Badezimmer holen. Wieder umziehen müsste ich mich auch noch.