Wie er nach Hause kam, wusste er nicht mehr. Einziger Trieb: Flucht!
Gepeitscht von Entsetzen und irrsinniger Angst rannte er nur, rannte und rannte, bis seine Lunge schmerzte. Erfried rannte weit über stechenden Schmerz hinaus. Nicht einmal die vielen Menschen auf der Ladenstraße boten Sicherheit. Ohne überlegen stürmte er aus winkligen Gassen heraus zur anderen Straßenseite. Quietschende Reifen! Fast überfahren! Er sah nicht hin, hetzte weiter, zur Bachgasse, ins Haus.
Mit fliegenden Fingern Haustür aufgeschlossen, aufgerissen und wieder zugeschlagen! Dann hastete er atemlos Treppen hinauf, flüchtete in sein winziges Zimmer. Sogar hier schlug er die Tür zu, verriegelte und verrammelte, als könne er damit verfolgende Finsterung aussperren. - Niemals vergäße er den Anblick des knochigen Kopfes, woraus schwarze Löcher starrten!
Zwar gaben bleiche Lider der Schwärze dahinter leidliche menschliche Form, aber diese Augen besaßen keine Pupillen, bestanden nur aus glitzernd schwarzen Augäpfeln. Enthaltene Schwärze trat heraus, griff nach allem im Blickfeld, wollte wegzerren, greifen, besitzen, fressen. Nur halbe Gestalt konnte er sehen, abgeschnitten von Sonnenstrahlen im Dunst, welcher wabernd aus dem Boden stieg, tanzende Stäube auftrieb.
Krankes Leuchten füllte den Innenhof fast ganz. Alles hinter dieser Lichtsperre blieb verdeckt, gerade so, als sei es gar nicht vorhanden oder gehöre anderer Welt. Dennoch blieben schwache Umrisse. So ganz und gar jenseits konnten Mauern, Dach und Baum nicht sein.
Konnten die vormals schön geschilderten Elfenbrücken ganz wirklich sein? Ahnte seine Mutter in ihrer märchenhaften Erklärung es unbewusst oder kam der Wahrheit ungewollt nah? Nur, dass dies keine Brücken für gute und freundliche Elfen kindlicher Vorstellung sein mussten, sondern Übergänge in andere Bereiche, andere Welten und auch sehr dunkle Gefilde? Verdeckte Tore? - Ahnte sie das und verklärte es lieber, um das fragende, staunende Kind damals nicht zu beunruhigen?
Es gibt auch Schwarzelfen! entnahm Erfried vor Monaten einem Buch über Märchen und Sagen. Günstigstenfalls missmutige Geistwesen, ungünstigstenfalls bösartige und grausame Jenseitsbewohner. Schwarzelfen nannte man zur Unterscheidung auch Alpe. Alpe erzeugten alle Alpträume.
Wie lange er zitternd und vor Angst schlotternd im Zimmer saß, konnte er nicht der Uhr ablesen. Eine Stunde oder mehr? - Kein Zeitgefühl! Erst nachdem vertraute Schritte und Stimmen auf der Treppe hörbar, erwachte er aus Starre. Mama und Reinhild kamen von einem Besuch zurück. Vorsichtshalber schaute er aber durchs Schlüsselloch nach draußen, bevor er leise die Zimmertür wieder entriegelte. Sie sollten nicht erfahren, er habe aus lauter Angst und Schrecken alles verrammelt und verschlossen.
Wie stünde er dann da? Ein bald dreizehnjähriger Junge flüchtet vor schwarzen Augen in sein Zimmer und versperrt sämtliche Türen! Weder seine Mutter und schon gar nicht die kleine Schwester verstünden, lachten wahrscheinlich. Mama vielleicht weniger. Aber sie schüttelte sicher in sachtem Tadel den Kopf, berichte er erlebten Schrecken. Nein, er konnte niemandem davon erzählen. Vielleicht Ingomar? - Bestimmt! Der warnte doch eindringlich vor im Sonnenlicht tanzenden Stäuben. Ingomar musste mehr wissen, und zwar sehr viel mehr.
"Ach, da bist du ja, Erfried", begrüßte ihn seine Mutter lächelnd, als er aus dem Zimmer in die Küche kam. "Es gibt gleich Abendessen. Geh also nicht noch mal weg, hörst du?"
"Nein, Mama. Ich muss sowieso noch meine Schularbeiten machen."
"Also wirklich! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du die nicht erst zum Abend hin machen sollst? Kannst du denn nicht wenigstens ab und zu hören?"
"Ja, Mama."
"Was heißt hier: Ja, Mama?" Eleonore Gundeleit bemerkte unbekannten Unterton.
"Ich mache jetzt meine Schularbeiten, Mama."
"Tu das!" Sie sah ihrem Sohn nachdenklich hinterher, schüttelte unverstehend den Kopf, nachdem die Tür zuklappte. "Was stimmt denn nicht mit ihm?" fragte sie halblaut. Aber dann bereitete sie Abendbrot, begleitet vom fröhlichen Geplapper Reinhilds, jüngste ihrer Familie.
Schweigend saß Erfried später am Tisch und kaute geistesabwesend. Es gab Milchsuppe mit Schirken und belegte Brote. Ein westpreußisches Abendessen. Eigentlich polnisch, wie Mutter einmal erklärte. Die wenigen slawischen Nachbarn ihrer Geburtsheimat machten es auch bei den Deutschen heimisch. Gleichfalls Piroggen und anderes. Milchsuppe mit Schirken hieß ursprünglich 'Mletschka Supa sa Tschirki'. Seine Mutter sprach ganz ordentlich Polnisch. Als Tochter westpreußischer Großbauern musste sie es mindestens leidlich beherrschen, wegen der Saisonarbeiter. Früher in West- und Ostpreußen ansässige Polen sprachen selbstverständlich zusätzlich zu ihrer Muttersprache auch Deutsch. Ohne Akzent. Das lernten sie schon in der Schule. Auf Polnisch wurde nicht unterrichtet.