"Sie wird auch Frau Nelda genannt", erklärte Frau Zeisig rasch. "Das ist ihr Vorname, musst du wissen."
"Weshalb nennt man sie denn Frau Nelda und nicht Frau Perchten? Ist das nicht unhöflich?"
"Das ist eine sehr alte Gepflogenheit und überhaupt nicht unhöflich", lächelte Frau Zeisig etwas unsicher. "Frau Gräfin Almuth von Dahlendorf darf auch mit 'Frau Almuth' oder mit 'Gräfin Almuth' angesprochen werden, wenn auch nicht von jedem. Perchtens sind eine hier sehr alt eingesessene Sippe. Ich bin etwas überrascht, dass du diese Herrschaften kennen gelernt hast und sogar eingeladen wurdest. Normalerweise sind die Perchtens sehr zurückhaltend. Kaum jemand hier in unserer kleinen Stadt kennt sie wirklich richtig."
"Das ist aber seltsam! Sie sagten doch, die Perchtens seien eine ganz alte Familie hier..."
"Das muss nicht unbedingt heißen, dass sie Wert auf nähere Verbindung in unmittelbare Nachbarschaft legten."
"Aber wieso denn nicht?" Gemisch unbändiger Neugier und ängstigender Befremdung beschlich den Jungen. Schon wieder erzählte man ihm von diesem sonderbaren Umstand. Wirklich schwer begreiflich. - Ein dunkles Geheimnis?
Frau Zeisig fand anscheinend geringen Gefallen an Gesprächen über Familie Perchten. Unwohl schweifte ihr Blick aus einem Schaufenster nach draußen. Im gleichen Augenblick läutete im Büro hinten das Telefon. Erleichterter Miene meinte sie hastig: "Ist wohl eine sehr private Geschichte. Tut mir leid, aber ich muss ans Telefon, junger Mann. Frage getrost wegen deiner Angelegenheit im Hause Dahlendorf nach. Auf Wiedersehen!"
Erstaunlich behend für eine Frau ihres Alters verschwand sie eilig im Hintergrund des Ladens. Erfried hatte fast den Eindruck, die alte Buchhändlerin flüchte vor einer Antwort. Telefonläuten schien gerade recht gekommen und beste Gelegenheit zum Abbruch ihrer Unterhaltung. Kurzes Winken, dann verschluckte sie der Eingang des kleinen Büros. Abgehängt! - Erfried hörte sie ins Telefon sprechen. Undeutlich drang ihre Stimme heran. Entschlusslos er stand an der gläsernen Ladentür, verließ schließlich die kleine Buchhandlung.
Sofort umschlang lärmendes Geschäftsstraßengewese, selbst in einer so kleinen Stadt überaus zudringlich. Erst recht, wenn man die Ruhe eines Ortes verließ, wo besonnene Stimmung zum Geschäft gehörte. Buchhandlungen sind zumeist solche Orte.
Er musste allmählich nach Hause. Das Mittagessen dürfte mittlerweile bereitstehen. Beim Überqueren des buckelig gepflasterten Marktplatzes rauschte ihm Gehörtes im Kopf. - Wieso wird diese Frau Perchten fast genauso genannt oder angesprochen wie Gräfin Dahlendorf?
Seine Mutter erwähnte einmal, alte Familien, auch wenn sie keinen Adelstitel führten oder nicht märchenhaft reich, besaßen sehr ähnlichen Rang wie Adelsgeschlechter. Es habe vergleichbar auf ihre großbäuerliche Familie in Westpreußen zugetroffen. Entscheidend dafür, jahrhundertealtes Herkommen einer Sippe, weniger deren Benennung. Schauten Familien auf gesicherte Abkunft von wesentlich mehr als dreihundert Jahren zurück, nicht gerade unbetucht oder nicht unbedeutend in Landbesitz, dann unterschied sie nur ihr Name vom unteren Adel. Sie besaßen allerdings bereits einen Hofnamen, welcher nicht mit dem amtlichen Namen übereinstimmen musste, obendrein üblicher in Gebrauch, als der amtliche Name. Auch solche Familien wurden 'vom' oder 'von Soundso' geheißen und angesprochen, obwohl sie gar nicht wirklich so hießen.
Merkwürdiges Verfahren! Muss wohl so ähnlich sein, wie bei Spitznamen. Solche sind meistens geläufiger als der jeweils richtige Name. Viele kannten dann oft genug nicht einmal den echten oder überlegten erst angestrengt, wie Spitzgenannte tatsächlich hießen.
Blitzartig wurde ihm bewusst, Frau Zeisig meinte in keiner Weise, er solle doch Einfachheit halber bei Perchtens selbst alles in Erfahrung bringen. Die müssten doch alles Wesentliche wissen, als seit je eingesessene Sippe. Frau Zeisig machte nicht den Eindruck zerstreuter alter Frau. Nein! Trotz ihres nicht unbeträchtlichen Alters, bestens auf dem Damm und nicht im geringsten irgendwie schusselig. Auch ihr seltsames Verhalten kam ihm wieder in den Sinn.
Sie vermied es! - Aber warum? Weshalb gab sie diesen sehr naheliegenden Hinweis nicht, verwies statt dessen ausgerechnet ans Grafenhaus Dahlendorf?
Irgendwie passte das alles mit jenen warnenden Äußerungen von Bernd Kaisers Mutter zusammen, zeigte auch unverkennbare Übereinstimmungen. Bloß an bigotter Frömmelei konnte es also nicht liegen, obwohl es bei Kaisers bestimmt die Hauptsache ausmachte. Es gab also noch einen Grund, der ganz anders lag. Oder auch mehrere Gründe. Konnte nicht ausgeschlossen werden.