Betäubt, Rauschen in Ohren und aus der Welt gerissen, verließ Erfried gleich Schlafwandler in zähem Traum das gräfliche Anwesen. Die alte Gräfin überging zuvor seine belegter Stimme gestellte Frage, was sie denn mit dieser Warnung meine, schüttelte nur sacht verneinend den Kopf und fragte nach dem Namen seines Klassenlehrers. Er nannte ihn. Daraufhin versprach sie befriedigende Lösung, hinsichtlich künftigen Gymnasiumbesuchs. Nachdrücklich betont, er könne sicherlich später die Reifeprüfung machen.
Mehr mochte sie nicht sagen, bedeutete unausgesprochen, er solle seinen Aufenthalt im Grafenhaus nunmehr beenden. Unter keinen Umständen wollte die alte Gräfin weitere Fragen hören. Sie trank ihren vorgeblichen Portwein aus, nickte mit geübt verbindlichem Lächeln und stand auf. Eilfertig sprang Erfried vom Stuhl, öffnete ihr zuvorkommend die schwere Bibliothekstür. Gräfin Dahlendorf nickte noch einmal wortlos, auf Erfrieds höflichen Abschied und Dank für Bewirtung, strebte kleinerer Tür im Hintergrund entgegen und verschwand im Dämmer anschließenden Gangs.
Noch immer klang ihm das Klappen jener Tür im Ohr. Eine Endgültigkeit. Gerade so, als sei diese betagte Frau damit für alle Zukunft aus seinem Leben getreten, wolle nie wieder darin auftauchen. Nur ihr Versprechen hielte sie selbstverständlich.
Ob er auf Erfüllung ihrer Zusage großen Wert legen sollte? Zu bekannt überheblichen Oberschülern wechseln? Seine Freunde und bisherige Umgebung für zweifelhaften Vorteil aufgeben? Fahnenflüchtig?
Man sollte wissen, wohin man gehört und zu wem man halten will, wer einem wichtig ist. Oberschüler galten ihm nicht viel. Vorwiegend Wichtigtuer, Angeber mit Bildung, Hauptteil Einbildung. Schon früh begriff er, Wissen und Verstand sind zweierlei. Selbstredend fördert und schärft Wissen den Verstand. Ungebildeter Verstand liegt hoffnungslos brach. Aber Wissen ohne Verstand ist Kram. Ihm bekannte Oberschüler besaßen meist nur umfangreiche Bildung und verstanden wenig. Klar, Verstand kann nur gefördert werden, wenn entsprechend vorhanden. Aus Rettichsamen wachsen schließlich auch keine Radieschen.
Nachdem er die große Empfangshalle zum Portal durchquerte, lähmten auf der breiten Zugangstreppe ratlose Augenblicke. Bang bedrückende Frage: Weshalb warnte die alte Gräfin vor verborgenen Dingen hinter Elfenbrücken? Als dritte in Reihe! Und sie gab ebenfalls keine Erklärung ab, bot keine Gelegenheit dafür, verwendete ganz genau dieselben Worte, wie schon Ingomar und später dessen Mutter. - Gräfin Dahlendorf sprach mich nicht ein einziges Mal unmittelbar an!
Erst jetzt gewahrte er deren eigentümliche Verhaltensweise. Vorher fiel ihm nichts daran auf, beachtete es nicht, fand das unwichtig und ohne Belang. Aber es musste Belang haben. Verfahre die Gräfin sonst so? Peinlichst vermied sie jede Anrede, wie vertrauliches 'Du' oder gar erwachsenes 'Sie'. Auch in dritter Ordnung, mit 'Er', redete sie ihn nicht an, ganz zu schweigen von 'Ihr'. Erst bei eindringlicher Warnung vor Elfenbrücken gebrauchte sie 'Du'. Ausgerechnet dabei! Und geradezu fluchtartig verließ sie zuletzt seine Nähe. Fast ergab es den Eindruck, sie fürchte etwas.
Aber was sollte diese Frau von Welt dazu veranlassen? Sie brauchte doch vor ihm keine Angst haben. Weshalb denn? Bin ich gefährlich oder so wichtig? - Bilde dir keine Schwachheiten ein!
Unverständnis wühlte, stellte neue Fragen, fand keine Antworten. Auf jenen Portalstufen bekam er deutliche Ahnung davon, was es hieß, kein Kind mehr sein, erwachsen werden. Und das letztlich unerbittlich. Niemand sähe ihm künftig mindere oder andere Fehlleistungen einfach nach. Fortan weitgehend ohne fremde Hilfe und kindliche Vorteile, musste er eigene Entscheidungen fällen. Allein verantwortlich.
In einem Zwischenbereich des Lebens angekommen, bemerkte er wenig mutig. Die Kindheit entschwand unwiederbringlich und der Lebensernst nahte fast drohend. Nichts und niemand machte das rückgängig, könnte es auch nicht. Es schritte einfach fort, unaufhaltsam, und keiner fragte deshalb nach seiner Meinung. Aber ihm blieben noch einige Jahre Frist, in denen es allmählich Alltag, Gewohnheit wird. Das findet sich! Allerdings standen Zweifel, ob ihm diese Frist wirklich bliebe. Zu überstürzt landete er in Verstrickungen, welche weit, erschreckend weit über seine noch recht kindhaft erlebte Abenteuerlust hinausreichten.
Vom Kirchturm am Marktplatz schlug es viermal kurz und fünfmal lang, während er die Stufen verließ und den Gehsteig betrat. Fünf Uhr! Rund eineinhalb Stunden verbrachte er im Palais Dahlendorf und dessen Bibliothek. Ihm kam es gar nicht so lange vor. Aber die Kirchturmuhr ging kaum soviel falsch, zählte sicher keine Stunde oder mehr darüber. Jetzt noch zum Haus an der Ronnburg gehen, schien ihm doch ein wenig spät. Zu Fuß bald Dreiviertelstunde. Auch hielt ihn nun verstärkt unbestimmbare Scheu ab.
Aufmerksam forschte er nach Anzeichen des Räubers der Farben oder irgendeinem anderen Wesen mit vollkommen schwarzen Augen. - Er entdeckte niemanden, außer Leuten, die nach Feierabend Einkäufe tätigten. Offenbar neuerlich etwas grauer und freudloser im Gesicht, als noch am Morgen. Angeschwollener Autoverkehr brodelte. Feierabendverkehr! Lärmend brausten blecherne Fahrzeuge vorbei, übertönten Gesprächsstimmen ringsherum, husteten stickig riechende Abgase zwischen Häuser. Nur Fetzen von Worten und Sätzen drangen unverständlich heran. Nichts Bedeutsames. - Zurück zur Bachgasse.
Von den Schularbeiten schweiften seine Gedanken ständig in andere Bereiche. Zu sehr beschäftigte ihn bisher Erlebtes, wirbelten unnachgiebige Fragen.
Was geschah in der kleinen Stadt? Auch am Nachmittag schien es erneut ein Stückchen dunkler geworden, Gesichter grauer, Farben blasser, die Sonne schwächer und doch unvermindert grell am stahlblauen Himmel.
Was ist mit Perchtens? Diese Frage bohrte wesentlich drängender. Sie mussten anders sein, als bisher geglaubt. Was verband das Haus an der Ronnburg mit allen Vorgängen? Ist es wirklich so, wie schlimmer Verdacht einreden wollte, sie seien eigentlicher Anlass für alle erschreckenden Verläufe?
Immerhin schloss es auch Gräfin Dahlendorf nicht gänzlich aus. Gleichwohl sehr betont, sie gebe alte Erzählungen wieder, welche jeglicher Verbriefung entbehrten. Aber sie ließ offen, ob und wie weit sie unverbrieften Überlieferungen Glauben schenkte. Dagegen stand, ihre gleichlautende Warnung vor den Elfenbrücken.