Leidlich beruhigt sah Erfried seinen verständlichen Irrtum ein, überlegte zugleich, was am kantigen Gesicht des Brückendieners so vertraut vorkam. Allein dessen Ähnlichkeit mit erschreckend geläufigen Zügen des Glanzdiebes konnte es nicht sein. Da gab es noch etwas... "Ich hab' dieses Gesicht schon einmal gesehen. Aber ich komme jetzt einfach nicht drauf, wo das war. Ich konnte den Brückendiener ja auch nur ganz kurz sehen."
"Ja? Oh, gut! Vielleicht fällt es dir ja noch ein", ermunterte Gundram, weiterhin sorglich an ihn gedrängt, als habe er Angst, der Brückendiener käme augenblicklich aus irgendeinem dunklen Winkel und ermorde seinen Freund auf der Stelle.
Es dauerte keine Viertelstunde, dann schwenkte aus vormaliger Fluchtrichtung ein Scheinwerferpaar in den Brunnenplatz, kam näher, hielt an. Blubbernd erstarb der Motor des zerbeulten BMW. Wagenschläge wurden geöffnet. Oskar Dimpfl und die vom Fahrtwind außerordentlich durchlüftete Kutte stiegen aus. Reichlich lange Gesichter.
Oskar Dimpfl schimpfte leise: "Wir haben den nicht gekriegt. Der ist gefahren wie der Teufel persönlich und hat uns von einer Falle in die nächste gelockt. Mein BMW hat ganz schön gelitten dabei. Und beinah hätt' uns ein Laster unter sich begraben."
"So was hab' ich auch noch nicht erlebt", bestätigte durchflatterte Kutte, rückte Stoffbahnen leidlich zurecht. "Zwei Gassen weiter bekamen wir den noch mal zu sehen, kamen auch ziemlich nah heran. Aber dann gab der dermaßen Gas, raste knapp vor einem Laster in die Hauptstraße und dann ohne Licht in eine ganz schmale finstere Gasse rein, wo wir auch nicht überholen konnten. Und am Ende war er einfach verschwunden, als habe ihn die Hölle selbst verschluckt. Wir leuchteten noch alles ab, konnten uns gar nicht vorstellen, wohin der davongerauscht war oder wo rein. Aber der war weg. Und es gab nichts, was als Versteck dienen konnte. Nur ein paar andere dunkle Gassen führten von dort ab. Aber da standen oder fuhren nirgendwo Autos und schon gar kein Mercedes."
"Macht euch keine Vorwürfe, Freunde" tröstete Herwig Perchten. "Der ist hier Zuhause! Der kennt sich hier aus, wie in seiner Westentasche. Außerdem ist der als Brückendiener jemand mit besonderer Prägung, die den unseren nicht nachsteht. Im Gegenteil sogar! Wir haben die ganzen Jahre vorher nicht gemerkt, dass ein Brückendiener hier ist und tätig wurde, natürlich auch nicht, wer das sein könnte. Wie denn auch? Also kann der sehr erfolgreich vor uns und unseren Fähigkeiten alles verschleiern. Und der Lichtfraß hat ihn mit weiterer Macht ausgestattet. Damit fände der selbst dann noch einen Ausweg, wenn wir ihn zu dritt oder zu viert angingen. Der ist hoch gefährlich, tödlich! Konntet ihr die Autonummer feststellen?"
Beide zuckten ärgerlich ihre Schultern. "Nein", ließ Oskar Dimpfl verlauten. "Aber auf der Rückscheibe hinten peppte die Stabschlange. Das Auto gehört höchstwahrscheinlich einem Arzt. Ich hab' ja auch so ein Ding bei mir drauf kleben, hab's deshalb sofort erkannt."
"Irrtum ausgeschlossen?" forschte Herwig Perchten, erntete überzeugte Geste als Antwort.
"Aber eben nur höchstwahrscheinlich. Kann das nicht auch ein Apotheker sein?" mutmaßte Ingomar.
"Unsinn!" lachte Oskar Dimpfl. "Die Äskulap-Natter verwenden Ärzte als Aufkleber, damit sie bei Notfällen oder Hausbesuchen nicht überflüssig von der Polizei belästigt werden, und auch dazu, damit andere sehen, da ist ein Arzt, falls mal medizinische Hilfe gebraucht wird. Apotheker machen keine Hausbesuche. Wär' ja 's Allerneu'st, wenn die mit Mörser, Stampfer und ihrer Feinwaage ins Haus kämen und Pillen drehen."
Heftig wirbelten Erfrieds Gedanken. - Heiße Einsicht! Aufgeregt bummerte sein Herz schneller. "Ein Arzt? - Jetzt weiß ich wieder, woran mich das Gesicht erinnert hat: Das muss der Doktor Wappler sein!"
Alle verstummten schlagartig. Fünf Augenpaare starrten ihn an. "Doktor Wappler, der Ecke Klopfergasse seine Praxis hat?" staunte Herwig Perchten nach kurzem Überraschungszögern. "Bist du dir sicher?"
"Ja! Außerdem gehört ihm doch auch das Haus und alles dort." Erfried wies zum hölzernen Tor mit dem Markenwappen.
"Wie kommst du denn darauf?" verwunderte Herwig Perchten hörbar. "Das Anwesen ist seit hundert Jahren städtischer Besitz. Das ist zwar das ehemalige Höllenhaus des Inquisitors, aber später, nach der Reformation, hat es der Kirche als Armenhaus gedient. Dann übernahm es die Stadt."
"Ich habe hier gestern, eigentlich vorgestern, mit einer Frau gesprochen. Die sagte das. Und die meinte auch, sie wüsste es ganz genau, weil sie schon immer hier wohnt. Wenn ich mich richtig erinnere, dann sagte sie, das Haus gehöre seit dem Krieg den Wapplers. Und Doktor Wappler ist obendrein auch noch katholisch."
"Na, dös alloan hoaßt ja nun schon lang nimmer viel", schüttelte Oskar Dimpfl den Kopf. "Bloß weil Leut' in der römischen Kirch' sind, müssen's ja nicht gleich verdächtig oder gar bös sein. Ich bin selbst auch pro forma in der Papstkirch' drin, geh immer wieder mal in die Messe, als guter Doktor von nebenan. Man will ja nicht auffallen mit seiner eigentlichen Sache. Und man braucht's doch nicht glauben, was die Pfaff'n da rödeln. Tut doch auch kaum noch wer, wenn's net ganz blöd sind. Und unser Freund Werner ist im Schleswig'schen, ganz im Norden oben, sogar Vorsteher einer lutherischen Kirchengemeinde. Also, an so was kann's net festgemacht sein."