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Abermal, Kapitel 01, Seite 06

flackert


"Sie haben eine bemerkenswerte Beobachtungsgabe, mein Herr", erstaunte ich. Irgendwie kannte ich diesen Menschen. Aber woher? Er schien mir um einiges jünger, vielleicht Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig.

"Mein Name ist Arfrath, mit 'th' am Ende. Ich freue mich, ihre Bekanntschaft zu machen."

Ich stellte mich gleichfalls vor und bemerkte scherzhaft, bei meiner Eigenschaft als Doktor, also Lehrberechtigter der Ingenieurswissenschaften, seien wir gewisser Weise Kollegen. Allerdings meine Tätigkeit in der Industrie ausdrücklich betont. Angebotene Hand ergriffen, zuckte ich zusammen, rang mühsam um Fassung. Prickelnder Strom sprang herüber, floss abflauend in übrigen Körper. Während es in meiner Hand noch immer kribbelte: "... und lassen sie bitte um alles in der Welt den 'Doktor' weg..."

"Wie sie möchten! Ich nehme an, sie haben dieses bemerkenswerte Gesicht eingehend betrachtet?" Er deutete auf die knochigen Umrisse mit schwarzen Augen darin. Bass erstaunt nickte ich. "Ich kann ihnen dazu eine Geschichte erzählen, wenn sie es wünschen", fuhr er fort.

"Was für eine Geschichte denn? Ich weiß, von wem das Gesicht dort gestaltet wurde. Wir gingen damals in ein und dieselbe Klasse."

"Erfried Gundeleit", nickte der andere.

"Bitte?" Reinster Stromstoß, nach endlos langen Jahren diesen Namen plötzlich wieder aus einem Mund zu hören. "Sie wissen von diesem ehemaligen Schüler? Das ist doch schon runde drei Jahrzehnte her! Damals sind sie vielleicht gerade erst geboren worden, wahrscheinlich sogar später." Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.

"Oh, das kann täuschen, das mit dem Alter", lächelte mein Gesprächspartner. "Aber mit Jahren selbst muss es nichts zu tun haben. Es war ja doch eine nicht ganz alltägliche Sache damals, von der heute niemand mehr spricht. Dazu war sie nicht auffällig genug. Wäre die Kirche abgebrannt, dann lägen die Dinge anders. Aber so? - Möchten sie die Geschichte hören?"

"Aber selbstverständlich!" Ich platzte fast vor Neugier. Außerdem konnte es durchaus sein, etwas Licht käme ins geheimnisvolle Schicksal des bemerkenswerten Klassenkameraden. Nichts wäre mir jetzt lieber.

"Dazu sollten wir aber einen geeigneteren Ort aufsuchen", schlug er vor. "Ich nehme auch nicht an, dass sie weitere erhebliche Zeit in diesen Mauern verbringen wollen."

"Nein, da haben sie genau ins Schwarze getroffen. Hier ist es mir doch etwas zu ungemütlich. Darf ich sie zu mir bitten? Ich habe noch im Haus meiner alten Eltern ein kleines Appartement im ausgebauten Dachstock", lud ich eilfertig ein.

"Gern! Wenn das nicht stört?"

"Wen sollte das stören? Meine alten Eltern beanspruchen zwei Räume im Erdgeschoss und das übrige Haus bewohnt mein älterer Bruder mit seiner Familie. Ich bin dort zuhause und kann jederzeit Gäste einladen. Das war schon immer so bei uns. Wir können mit meinem Wagen fahren, falls sie nicht lieber mit ihrem eigenen hinterherfahren möchten."

"Nein, nein. Ich besuche sie zum Abend. Wäre neunzehn Uhr angenehm?"

Ich stimmte zu und schrieb ihm meine hiesige Hausanschrift auf die Rückseite einer Visitenkarte "Ich schaue dann um neunzehn Uhr vor die Haustür. Meine kleine Nebenbehausung hat keine eigene Klingel, weil ich sowieso nur selten dort bin."

"Ich werde pünktlich sein", versprach er, reichte mir seine Hand.

Wieder strömte absonderlich kribbelndes Gefühl. Eigenartige Aufladung! Auch drängte leichter Eindruck, er benötige eilig bekritzelte Visitenkarte gar nicht. Jedenfalls warf er keinen Blick darauf, steckte sie fast achtlos in eine Tasche seiner dunklen Jacke.

Wir verabschiedeten uns. Ich tappte zu den Treppen. Er selbst blieb hingegen stehen. Am Treppenniedergang drehte ich mich noch einmal um, wollte grüßend meine Hand heben... aber da stand niemand mehr. Still und verwaist gähnte der Gang. Offenstehende Klassenzimmer im Halblicht. - Wohin ist der denn verschwunden? Wahrscheinlich mit seinem Katzenschritt in das Klassenzimmer zurück, aus welchem er zuvor ebenso heimlich herauskam!

Nach kurzem Schulterzucken betrat ich die Stufen. Ein Schauer lief mir dabei halb wohlig, halb gruselig über den Rücken, glaubte gewiss, wie vor vielen Jahren, mitsamt Schulkameraden Treppen hinunter zu poltern.

Trampelnde Flut wilder Bande,
befreit sehnlich erwarteten Schulschluss begrüßend,
im alten Klassenzimmer erschienenen,
geisterhaft aus verflossenen Zeiten.



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Mannie Manie © 1999
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