Ingomar goss eine Tasse mit Kaffee voll und kam zum Küchentisch. Er bevorzugte für seinen Hunger aber deftigere Kost, als Möhrenkuchen.
"Woher hast du denn diesen italienischen Kaffeekocher, Ingomar?" platzte Erfried heraus.
"Den habe ich mir von einer Reise nach Mailand mitgebracht, weil er so praktisch ist. Und der ist auch nicht aus diesem hässlichen Aluminium, wie diese Dinger sonst, sondern aus Edelstahl."
"Aber du nimmst richtigen Kaffee dafür?"
Ingomar grinste über das ganze Gesicht. "Da triffst du den Nagel auf den Kopf, mein Lieber. Nein, italienische oder französische Kaffeesorten mag ich gar nicht. Aber man muss nicht alles und jedes mögen. Und es hindert ja auch nicht, festzustellen, dass man in anderen Ländern was ganz praktisches erfand, wie eben auch diese Kaffeekocher. Die Leute dort sind doch auch nicht auf den Kopf gefallen."
Nach einer Weile fragte Erfried: "Wohnst du hier meistens allein?"
"Lieber Himmel! Nein!" lachte Ingomar. "Meine Leute sind derzeit verreist. Eigentlich wollten die heute mit dem Zug zurückkommen. Weil ich sowieso in der Nähe war, bin ich zum Bahnhof gegangen. Aber mit dem Zug an den ich dachte kamen sie nicht mit. Ist ja auch nicht schlimm. Wenn sie bei diesem Unwetter inzwischen ankamen, dann nehmen sie ein Taxi. Oder sie sind gar nicht losgefahren, rufen nachher an und sagen, sie bleiben noch ein oder zwei Tage in Karlsruhe."
"Und dein jüngerer Bruder, wo ist der?"
"Der ist auch in Karlsruhe, wohnt seit zwei Jahren bei einer Tante und geht dort zur Schule. Der wollte aber auch mit herkommen. Hatte mich schon gefreut, den mal wieder zu sehen. Der ist letzten Monat vierzehn geworden. Ein frecher aber lieber und lustiger Bursche, manchmal etwas verschlossen und sonderbar. Jedenfalls kein alltäglicher Junge! Zuweilen kann er anderen merkwürdig vorkommen, wegen seiner Besonderheit. Aber das ist eben seine Art. Ich kann mir vorstellen, dass ihr beiden euch gut versteht."
"Meinst du?"
"Ja. Ich habe nicht den Eindruck, du bist mit deinen normalen Schulkameraden besonders gut zufrieden. Den allermeisten bist du doch köpfchenweise über, kannst mit ihnen nicht viel anfangen, stimmt's?"
"Na ja, ich habe mich mit einem aus der Klasse ganz gut befreundet..."
"Aber er langweilt dich eigentlich, nicht wahr?"
"So will ich das nicht sagen..."
"Das nennt man gute Manieren, junger Freund. Das spricht nur für dich, dass du dich nicht einfach überheblich aufführst. Komm ruhig mal übermorgen oder in den nächsten Tagen vorbei, dann ist mein kleiner Bruder bestimmt auch da und ihr könnt euch in aller Gemütsruhe miteinander bekannt machen."
"Danke für die Einladung. Ich will aber nicht lästig sein."
"Blödsinn, du bist nicht lästig! Verstanden?"
"Und du meinst nicht, dass ich mich dann in was verrenne?"
"In was verrennen...?" Ingomar schaute erst irritiert, lachte dann laut, als er die Anspielung verstand. "Du bist mir vielleicht ein Früchtchen! Hast es ja faustdick hinter den Ohren! Schlingel! Bei mir vielleicht oder bei meiner drei Jahre jüngeren Schwester, aber bei meinem kleinen doch Bruder nicht. Ihr passt bestimmt zusammen, schließlich seid ihr fast gleich alt."
"Der ist doch vierzehn, sagtest du."
"Im Kopf hast du mehr drin als die meisten Fünfzehnjährigen."
"Danke, Ingomar!" Dessen gute Meinung freute Erfried sehr. Und obendrein auch noch ausdrücklich eingeladen! - Forschend schaute er aus dem großflächigen Küchenfenster. Letzte Strahlen untergehender Sonne fielen herein. Über ihre Unterhaltung in Bad und Küche bekamen sie gar nicht mit, wie das Gewitter davonzog. "Ich glaube, ich muss jetzt aber mal so langsam nach Hause. Es ist schon spät und meine Mutter macht sich vielleicht doch Gedanken, schließlich habe ich nicht gesagt, dass ich bei einem Freund bin und erst viel später komme."
"Ich begleite dich ein Stück, wenn du nicht allein die ganze Strecke gehen magst. Oder auch bis zu dir nach Hause", bot Ingomar freundschaftlich an. "Mit dem Auto kann ich dich zur Zeit leider nicht fahren. Das meines Vaters ist zur Überprüfung in einer Werkstatt und meinen neuen Käfer bekomme ich erst morgen."
"Nein, nein. Ich hab' keine Angst im Wald oder im Dunkeln", lehnte Erfried fast gekränkt ab, obwohl er es liebend gern sähe, schenkte ihm dieser neue Freund noch länger seine begehrte Gegenwart.
"Angst haben, ist nichts Ehrenrühriges, wenn's vernünftige Gründe hat. Wer nicht weiß, was Angst ist, ist auch nicht mutig oder kühn, sondern gemütskrank oder doof. Mut heißt, seine Angst beherrschen. Angst und Feigheit sind nicht dasselbe." Der jüngere Mann schwieg eine Weile, fuhr dann ernst fort: "Irgendetwas ist hier in die Gegend gekommen oder hat lange gewartet und gelauert. Du weißt von dem Jungen, den man Anfang April tot auffand?"
"Ja, Herbert Welzer. Der ging in die Parallelklasse. Aber der ist doch nicht umgebracht worden."
"Das weiß keiner sicher!" Wie nachhallender Donner gewesenen Unwetters standen Worte da, unterstrichen vom scharfen langen Nagel an Ingomars kleinem Finger.
Alle Gelöstheit verflog aus dem Jungen. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl herum. Er sah zur bereits halb untergegangenen Sonne, deren gelbe Strahlen als breite Flut über Fensterbrett hinweg im gefliesten Küchenboden einschmolzen. Kein Abendrot. Er machte wegwerfende Geste und meinte: "Noch ist es richtig hell. Wenn mir jemand was will, dann sehe ich so einen von weit schon."
"Nicht alles ist zu sehen, Junge. Manche Dinge sind in anderen Dingen verborgen, und die wiederum in anderen. Und Licht allein, erhellt nur das, was es erfasst." Ingomar deutete eindringlich auf hereinfallende Sonnenstrahlen. Allgegenwärtige Stäubchen tanzten darin, bildeten richtigen Lichtpfad zur Sonne. "Schön anzusehen, nicht?"
"Ja, schön! Meine Mutter nannte das mal eine Elfenbrücke", meinte Erfried versonnen, dankbar für die Wendung des Gesprächs.
Ingomar sah ihn ernst an. "Geh nicht in den Sonnenstrahl tanzender Stäube! Dort verbergen sich Dinge, die du besser nicht störst!"