Am nächsten Morgen rückten Erfrieds erlebte und geträumte Schrecken wieder glücklich in den Hintergrund. Sie lauerten jedoch weiterhin in finsteren Abgründen, warteten auf günstige Gelegenheit, bevor sie langsam aber sicher versanken. Vergangenes Entsetzen erschien jetzt mehr oder weniger unwirklich. Ob das gestern alles tatsächlich geschah? - Er wies es fort. Viel zu unwahrscheinlich! Bestimmt eine Täuschung!
Wirklich nur Täuschung? - Eleonore Gundeleit sah ihren Sohn unauffällig forschend an, bemerkte zu dieser frühen Stunde nichts in seinem Gesichtsausdruck oder Verhalten, was auf schwerwiegende Umstände hinwies. Nie fröhlicher Frühaufsteher je gewesen, kaute Erfried eher mufflig sein Frühstück. Das kannte sie an ihm. Kein Anlass für irgendwelche Sorgen. Es lag wohl doch alles am schwierigen Alter, in dem er gerade steckte. Wie jeden Tag, erinnerte sie nachdrücklich, er müsse endlich los, käme sonst wieder zu spät zur Schule.
Mit üblichem Brummen ihre Mahnung zur Kenntnis genommen, griff er seine Schultasche und verschwand nach knappem "Wiedersehen, Mama!".
Grauer Morgen empfing und es nieselte immer wieder. - In der großen Pause hielt Erfried nach Bernd Kaiser Ausschau, schon mächtig gespannt, was er ihm über die Leute im Haus an der Ronnburg berichten könnte. Zwischen den vielen anderen Schülern auf dem Pausenhof gar nicht einfach. Fast so groß wie ein Fußballfeld, wimmelte es von Kindern, Halbwüchsigen und auch Älteren. Wollte man jemand bestimmtes finden, bedeutete das langwierige Suche.
Alles rannte durcheinander. Ältere Mitschüler aus höheren Klassen standen meist in Gruppen beisammen, versperrten hochgeschossen zusätzlich Sicht. Ausreichend Überblick bot nur die große Freitreppe. Aber da standen stets aufsichtführende Lehrer. Man ging dort nur hin, wenn irgendwas dringend anlag. Sonst mied man diesen Standort, wollte man nicht als Schleimer gelten. Bei Lehrern lieb Kind machen, stieß Schulkameraden übel auf.
Erst gegen Ende der großen Pause entdeckte er Bernd Kaiser endlich. "Grüß dich, Bernd!"
"Tag, Erfried!" lächelte Bernd Kaiser geschmeichelt. Von älterem Schüler gegrüßt oder angesprochen werden, galt gemeinhin als Auszeichnung. Und für ihn gehörte Erfried zu den Älteren.
"Na, hast du was über die Leute im Haus an der Ronnburg erfahren?"
"Nicht viel. Die kennt keiner wirklich. Man weiß zwar, dass dort welche wohnen, aber richtig kennen tut sie niemand. Meine Mutter wurde ein bisschen komisch, als ich nach denen fragte. Sie sagte, das seien keine Leute, die ich kennen müsse. Die gingen nie in die Kirche und wollten mit anderen nicht viel zu tun haben. Sind anscheinend bessere Leute. Aber die müssen da schon ziemlich lange wohnen. Die Oma von einem Freund von mir erzählte das. Aber auch die sagte sonst nichts über die Leute da. Aber sie sagte noch, dass die keine richtig Fremden hier sind. Da müssen schon die Urgroßeltern von denen gewohnt haben."
Immerhin schon einiges, dachte Erfried. Und Bernd Kaisers Mutter musste mehr wissen als sie sagen wollte, wenn sie solches Urteil abgab. Ob sie mir vielleicht mehr sagt? Wenn ich einfach mal bei Kaisers aufkreuze, dann... Aber wie mache ich das am besten? Ich brauche einen unverfänglichen Grund. - Leutselig fragte er Bernd: "Hast du eigentlich Sigurdhefte oder Falkhefte? Ich habe eine ganze Sammlung und auch noch Tom Prox und Billy Jenkins von meinem Bruder. Sind ganz tolle Schmöker."
"So was darf ich nicht haben."
"Wer darf das schon einfach? Meine Mutter hat auch immer Theater gemacht deswegen."
"Man muss doch seinen Eltern gehorchen." Bernd Kaiser sagte das mit eigenartigem Unterton.
"Machst du das denn immer?" Erfried schüttelte lachend den Kopf.
"Das steht doch so in der Bibel."
Erfried schaute den Jüngeren verdutzt an. Zwar selbst sehr evangelisch erzogen, gäbe er so eine Antwort aber nie. "Liest du denn viel in der Bibel?"
"Ja!" Treuherzig nickte Bernd Kaiser. "Wir sind in der Bethlehem-Gemeinde. Ich habe sogar schon predigen dürfen ganz kurz."
"Donnerwetter! Bei uns in der Kirche macht das meistens der Pastor oder ein anderer Erwachsener, wenn der Pfarrer nicht will oder nicht kann."
"Du bist in der Landeskirche, nicht?" Wieder dieser seltsame Unterton bei Bernd Kaiser.
"Ja klar! Wo denn sonst?"
"Na ja, wir sind eigentlich auch evangelisch. Aber wir sind in der Bethlehem-Gemeinde."
"Und was ist daran besonders?"
"Das ist eine Freikirchengemeinde."
"Ist das eine Sekte?"