Unentschlossen stand er vor dem Gattertor, schaute herum. - Als Schutzfeste reichte die uralte Ronnburganlage einst sicherlich aus, lag aber nicht gerade sehr günstig zur Verteidigung, überlegte der Junge. Der rechterhand etwa einen Kilometer abseits aufsteigende Berg wäre sicherlich dafür besser geeignet gewesen. Vielleicht gab es dort keine Quelle, wie hier? Aus dem Hain entsprang gurgelndes Rinnsal, stürzte über steilen Abhang zum Flüsschen im sumpfig schmalen Tal.
Geradezu drückende Stille herrschte am Ort. Wer in diesem erstaunlich großen Haus lebte, wusste offenbar niemand. - Merkwürdig für ein solches Städtchen, wo gerade derartiges gemeinhin rasche Runden macht. Zwar kamen sie als Kinder hier sowieso nur selten hin und mählich jenseits Kindesalter ohnehin kaum noch, doch Leute sah er hier noch nie. Immer wartete das Haus auf etwas, wirkte unbewohnt.
Allerdings konnte das täuschen, mitten in diesem weitläufigen Garten, von sehr alten und hohen Bäumen und filziger Schwarzdornhecke davor fast völlig verdeckt. Keinen Blick gestattete es auf Fenster. Ob daran überhaupt Vorhänge oder gerade ein Gesicht hinter mattem Glas in schemenhafter Entfernung? Aber es drang auch kein Laut heraus, außer Rauschen von Baumkronen im Wind, Wispern des Heckenlaubs und verhaltenen Vogelstimmen. Nur abends oder nachts könnte man am Lampenlicht hinter Fenstern Leben erkennen. Zu solchen Stunden kam er hier niemals hin. Warum denn auch? Nächste bewohnte Häuser lagen reichliche dreihundert Meter entfernt. Selbst wohnte er in der verwinkelten Altstadt. Noch viel weiter weg. - Kilometer!
Auch jetzt Schweigen im Garten, mit seinem alles umfassenden, weitgehend selbst überlassenen Rasen, worin offenbar niemand Gemüse, Kräuter oder Blumen zog. Nur einsame Bank stand im ab und an gemähten Gras unter mächtiger alter Linde, jenseits kiesbestreutem Weg zur Haustür. Letztere zumindest teilweise sichtbar, umhüllt von Ästen, Zweigen und deckendem Blattwerk dichter Bäume. Man könnte glauben, grüner Tunnel führe düster zur Tür. Ausgesprochen verwilderten Eindruck machte das alles wiederum nicht. Aber auch keinen richtig bewohnten. Ob rückwärtig am Haus ein Nutzgarten angelegt? – Unwahrscheinlich. Er wiese nach Norden, erhielte kaum einen Sonnenstrahl.
Alles verweilte irgendwie dazwischen, als wolle hier nichts und niemand festlegen oder festlegen lassen, unbestimmt bleiben, ohne echten Ort. Wartestand! Der Junge erschauerte leicht, fühlte Gänsehaut. Die ganze Sache kam ihm zunehmend wenig geheuer vor. - Und hier ging dieser eigentümlich verlockende Mensch hinein? Wohnte er hier etwa?
Am unauffälligen Torgatter heftete ein Schild in Emaille. PERCHTEN stand darauf. Offenbar deren Familienname. Was sollte es sonst sein? Hier wohnte also die Familie Perchten. Wenn jener Mensch nur zu Besuch weilte, dann hieß er nicht unbedingt auch Perchten.
Wie mag sein Name sein? Vor allem, sein Vorname? Wie klingt seine Stimme? Was tat er? Wo kam er her? Wer war er?
Urplötzlich tauchte eine Gestalt neben der Haustür auf. Erschrocken machte der Junge einen Schritt in Deckung der Dornenhecke, lugte vorsichtig durch Zweiglücken. Dieser seltsam anziehende Mensch! Offenbar ums Haus herumgegangen, betrat er erst jetzt den Haupteingang, blieb kurz noch einmal stehen, spähte suchend in den Garten. - Misstrauisch? Wusste er um den Jungen?
Wahrscheinlich hielt er nach anderen Hausbewohnern Ausschau. Sonst käme er doch wohl stracks und ohne Zögern zum Torgatter? Einen Zwölfjährigen fürchtete der ganz bestimmt nicht und dürfte ohne Scheu wen ungebührlich neugierigen verscheuchen. Dann verschwand er auch schon in der Türöffnung, verschluckt von klaffender Dunkelheit des Flures. Die Haustür stand weit offen. - Ein Hinweis auf dessen Wissen über heimlichen Beobachter? Wollte der Fremde ihn in Sicherheit wiegen, damit er unvorsichtig seine Deckung aufgab?