"Na, der Wittkow ist ja auch ein ganz besonders mieses Exemplar."
"Und warum? Weil dem keiner mal die Fresse richtig polierte."
"Wittkow ist ein alter Brecher, kein Schwächling."
"Mein Vater auch nicht. Außerdem ist er ja einige Jährchen jünger und daher flinker. Wittkow ist ein haarig ekliger Muskelprotz, der sich vor lauter Muckis kaum richtig drehen kann. Bis der reagiert, hat den ein Schnellerer schon geschafft. Das hat nur noch keiner getan, weil's'n Beamter ist."
"Und du meinst, dein Vater würde das tatsächlich machen?"
"Mit Sicherheit! Papa Meinrad ist kein Quatschkopf und tut, was er sagt."
Thorsten Ruland aus ihrer Parallelklasse tappte näher, machte mitteilungsbedürftiges Gesicht. "He, Leute, habt ihr schon gehört, dass man gestern am Nachmittag wieder eine Leiche gefunden hat?"
"Was? Schon wieder einer aus unserer Schule, wie der Herbert Welzer?" entfuhr Erfried, fühlte nachgerade Stromstoß zucken.
"Nee, das war ein erwachsener Mann. Ich hab' den Namen nicht behalten. Stand in der Zeitung."
"Und wo hat man den gefunden?" Erfried wartete gespannt.
"Im Stadtpark unten, zwischen den Büschen. Bei Gärtnerarbeiten haben die das entdeckt. Sonst hätte der da drin noch Tage und Wochen rumliegen können und keiner hätt's gemerkt, bis es zum Himmel gestunken hätte."
"Ist der denn umgebracht worden?" wollte Günter wissen. Endlich mal was richtig Spannendes.
"Das stand da nicht drin. Der war nur einfach mausetot und keiner scheint zu wissen, warum. Wäre der totgeschlagen worden oder so, dann hätten die das sicher geschrieben."
"Das ist anzunehmen", bestätigte Erfried nachdenklich.
Widerlich schrillende Schulglocke verkündete zum entsetzlichsten Male Pausenende. Nächste Stunden hielten andere Lehrer als sonst. Musikunterricht bei Herrn Engel und Zeichnen mit Frau Quietz. In beiden Fällen gaben deren Namen bereits vielfachen Anlass für lästernde Vergleiche. Herr Engel sah wegen schlohweißer Künstlerlocken passend komisch aus und spielte ausgerechnet Harfe im Schulorchester. Frau Quietz erzeugte an der Tafel stets vernehmlich kratzende bis quietschende Kreidegeräusche, welche alles Blut in Adern sauer gerinnen lassen konnten. Aber sie überstanden auch dies.
Keine Wetterbesserung bis Schulschluss. Nach wie vor verhängten dicke Wolken fleckigen Himmel. Sie dünnten örtlich zwar aus und ließen unvermeidliches Graublau sehen, doch insgesamt erreichte die Sonne sommerliche Geltung nicht. Etwas wärmere Luft. Wenigstens nicht mehr so kühl wie am Morgen, als jedes mal rasch Gänsehaut entstand. Hellerer Himmel rührte jedoch vom höheren Sonnenstand. Ansonsten herrschte zunehmend bleierne Dunkelung des Glanzraubs.
Allein Erfried bemerkte drückenden Zustand. Seine Schulkameraden polterten und trampelten unbeschwert breite Treppen hinunter, strömten über großen Vorhof, flüchteten rasch zum Mittagessen nach Hause. Fröhlich schwatzend und miteinander kabbelnd hinaus in grauen Tag eigenartiger Zeit.
Günter und Erfried gingen meist nur kurzes Stück Schulweg zusammen. Beide beschäftigte Günters erkennbarer Sieg über den Klassenlehrer wesentlich mehr, als die in verwilderten Grünanlagen gefundene Leiche. Hoch erfreut lachten und alberten sie wie kleine Jungen, denen gekonnte Streiche gelangen, höhnten über Pauker ganz allgemein.
Günters mutige Entschlossenheit beeindruckte Erfried sehr. "Mann, Günter, das fand ich einfach toll von dir, wie du es dem Mantey heute gegeben hast. Der hat doch tatsächlich klein beigeben müssen. War richtig klasse, wie du das hinkriegtest! Das hätte keiner sonst geschafft. Ich auch nicht. Du hast schon richtig wie ein Großer gewirkt."
"Na ja, Erfried, wenn man genau weiß, dass seine Eltern in so einem Fall auch wirklich hinter einem stehen, dann hättest auch du das gekonnt. Und auch genauso hingekriegt, da hab' ich keinen Zweifel. Außerdem hat eben jeder so seine Stärken und Schwächen. Du hast solche und ich solche. Und uns beiden hängt die Zunge raus, wenn wir 'ne heiße Braut sehen. Aber in unserm Alter haben wir da noch immer keinen Stich. Die doofen Miezen gucken nur nach älteren Typen. Es ist schon ein blödes Alter, wenn man dreizehn ist. Mein Bruder sagte das auch und meinte, das hielte noch bis ungefähr sechzehn Jahren so an. Erst dann ginge es besser und sogar richtig voll ab. Meine Fresse, noch drei Jahre lang!" Günter Meinrad seufzte ausgiebig.
Ein prima Kerl, sein Klassenkamerad, fand Erfried ehrlich überzeugt. - Und der ist mein Freund! - Auch wirkte noch immer ihr gestriges Gespräch nach, wobei es doch um Angelegenheiten ging, welche von nun an so oder ähnlich ihr Leben zunehmend bestimmen werden. Günter lachte nicht über ihn oder kündigte angeekelt die Freundschaft. Genau im Gegenteil! Er bot sogar Hilfe an.
Grinsend meinte Günter: "Was du da gestern erzählt hast, ist ja wirklich eine dolle Sache. Erst war ich ja schockiert, wie die so schön im Fernsehen sagen. Aber dann... Mir ist das den ganzen Abend noch im Kopf rumgeschwirrt, hat mir keine Ruhe gelassen. Und dann hab' ich sogar davon geträumt, hab' mich im Traum mit diesem jungschen Perchten über irgendeine stinkige Matratze gewälzt. Dabei kenne ich den gar nicht, hab' den noch nie gesehen. Jedenfalls wüsste ich nicht, wer das ist und wie der aussieht."