Scham und Wut tobten abwechselnd. Es half ein bisschen, brachte etwas Klarheit. Erfried stand langsam auf, beachtete verklingendes Wippen unterhalb des Bauches nicht weiter, streifte seine Kleidung über. Zerrende Spannung ließ langsam nach. Der Traum fiel ihm ein. Beängstigend deutlicher Traum. - Warum träumte ausgerechnet er, er sei Unteroffizier Walter Reddiger im Russlandfeldzug?
Jede Einzelheit Robert Matterns Gesicht erinnert. Robert Mattern, Obergefreiter und überzeugter, jedoch einigermaßen anständig gebliebener Nationalsozialist. Auch Gesichter der anderen sieben von insgesamt neun Landsern tanzten gespenstisch aber klar herum. Gleichfalls ein dritter Name: Alfons Heinze! - Wie konnte ihm so etwas derart deutlich in eigenen Kopf geraten?
Alle neun Gesichter erkenne er sofort wieder. Normalerweise blieben Gesichter in Träumen stets verschwommen. Sogar das Gesicht seiner Mutter sah er nie in allen Einzelheiten, wusste nur genau, sie ist es, wenn sie schon mal aus irgendwelchen Gründen durch Schlafbilder spukte.
Erfried schüttelte vergebliche Überlegungen ab. Seit gestern verlief sein Leben nur noch in einem einzigen Alptraum oder in schauderhafter Abfolge von solchen. Dennoch kannte er jene neun Landser der Wehrmachtssondereinheit 2102 aus unerfindlichen Gründen persönlich. Mit Sicherheit! - Aber wie konnte das angehen? Seelenwanderung? Umgekommener Unteroffizier Walter Reddiger als Erfried Gundeleit wiedergeboren, er selbst?
Von solchen Dingen hörte er bereits, schenkte ihnen aber nie Beachtung. - Was ging ihn das an, jung und gesamtes Leben vor Augen? Wozu sollte halbes Kind derartige Fragen wälzen, oder werdender Jugendlicher, welcher unaufhaltsam reift?
Keine Veranlassung! Schließlich langweilte ihn auch die Kirche unsäglich. In merkwürdigem Bändchen las er einiges über Traumdeutung. Er fand es verstaubt im unordentlichen Wohnzimmerregal bei Meinrads, klappte es verwundert auf und erfuhr eigenartige Ansichten.
Danach kündigte eigener Tod im Traum, besonders gewaltsamer, tief einschneidende Veränderung und durchaus nicht kurzes Leben an. Fast alle Traumereignisse haben demnach meist entgegengesetzte Bedeutung. In unterschiedlichen Abstufungen und Zusammenhängen selbstredend. So bedeutete, im Traum Geld bekommen oder gewinnen, man werde im echten Leben Geld los oder gerate in entsprechende Heikeleien. Und träumen, man verarme oder sei es bereits, ließ auf gebesserten Lebensstand hoffen. Verrückt.
Sehr einschneidende Veränderung wühlte in seinem Leben herum, ohne geringsten Zweifel. Dies nicht sehen wollen, hieße Kopf in den Sand stecken. Ausgeschlossen! Nicht nach gestrigem Abend und vergangener Nacht.
Gundram! Dieser verfluchte Scheißalp! Wenn's mir irgendwie möglich ist, dann bringe ich alle einzeln um! Ingomar, dessen Schwester Swantraut, Frau Nelda und Herwig Perchten eingeschlossen!
Allerdings bezweifelte er sofort Machbarkeit entsprechenden Rachefeldzugs. Alben konnte man wahrscheinlich so wenig wie den Dieb des Glanzes töten. - Oh Gott!
Wie spät ist es jetzt eigentlich? - Schnell huschte suchender Blick durchs Zimmer, Folterraum vergangene Nacht. Großer blecherner Rasselwecker stand beim Nachttisch auf dem Fußboden. Er hob ihn hoch. Halb sieben? Unwahrscheinlich! Es konnte nicht halb sieben früh sein und auch nicht halb sieben abends. Er hielt das kalte Ding ans Ohr.
Stehen geblieben! Kein Ton, außer Klappern im Innern und pingendem Geräusch der Schrillglocke. Gundram, der schlampige Alp, zog das scheppernde Gerät nicht auf. Ärgerlich holte er es nach, stellte den Morgenschreck als absichtliche Bosheit auf den Nachttisch. Jetzt klang lautes Ticken, unterbrochen vom rumpelnden Grollen des Gewitters draußen.
Ich stehe nicht mehr unter Bann! - Jedenfalls längst nicht mehr im gleichen Ausmaß vergangener Nacht. Nicht nur Gedanken und Geist einigermaßen befreit, von keinem fesselnden Nebel behindert, auch der Körper gehorchte augenscheinlich ausnahmslos seinem Willen.
Das muss ich nutzen, bevor die Alben mich wieder kriegen. Ich muss hier verschwinden. Irgendwie werde ich den Weg nach draußen schon finden. Raus hier, aber schnell! - Leise federnde Sprünge zur halb offenen Zimmertür.
Bloß nicht dagegen kommen oder irgendwie bewegen! Sie machte zumindest letzte Nacht teilweise Geräusche dabei. Womöglich knarrte oder quietschte sie ausgerechnet in diesem Stand laut. Jeder in der Nähe hörte es sofort. Dunkelalben haben sicher äußerst feines Gehör. - Vorsichtig lugte er durch den Spalt.
Düster streckte ungelüftete Flurlänge. Kein Laut und keine Bewegung. Zumindest schien niemand hier unterwegs. Mutiger geworden, glitt er zwischen Türblatt und Rahmen hinaus. Aus finsterer Reihe Bilderrahmen glotzten unerfreute Gesichter. - Wohin jetzt? Wo geht's zum Ausgang, in den Parkgarten? - Ihm blieb nur eine Richtung. Am Gangende rechts setzte Fensterkreuz deutliche Grenzen. Gewitterregen prasselte wild dagegen. Linke Richtung führte tief ins düstere Hausinnere. Immerhin sperrte dort nichts. Hoffentlich!