Erfried holte anerzogenes gutes Benehmen hervor und trat zum Tisch. Umgehender Frontalangriff seines Charmes schien ihm besser. Und Charme konnte er ordentlich versprühen, hielt verbindlichst lächelnd dem raubvogelgesichtigen Prediger die Grußhand hin. "Guten Tag, Herr Tobler! Mein Name ist Erfried Gundeleit. Wie angenehm, ihre Bekanntschaft zu machen!"
"Guten Tag, Erfried!" antwortete der so entwaffnend Begrüßte, nahm dargebotene Hand und drückte sie schlaff. - Igitt! - "Du bist also der Schulfreund, von dem unser junger Bruder Bernd erzählte. Erstaunlich, wie reif du schon wirkst! Aber Bernd sagte auch, du wärst etwas älter als er. So reif hätte ich's mir allerdings ganz und gar nicht vorgestellt." Seine Augen brannten scharf ein, schwer einzuordnendes Flackern darin. "Ist dies das Buch, das ihr miteinander lesen wollt?" Nachgerade lauernde Frage. Seine klauenartig wirkende große Hand wies mit schrecklich ausgestrecktem Zeigefinger auf den Band in Erfrieds Linker.
"Ja. Das ist RULAMAN von David Friedrich Weinland. Das gibt es auch in unserer Schulbücherei. Das hier gehört aber mir. Meine Mutter hat es mir zu Weihnachten geschenkt."
"Aha! Rulaman, also. Ein christliches Buch ist es nicht. Ich kenne es." Schlecht verhohlene Missbilligung. "Ich werde euch aber auch etwas geben. Einen Bildband der biblischen Geschichten, mit vielen schönen kunstvollen Bildern, womit das Wirken und Leiden unseres Herrn Jesus Christus wunderbar dargestellt wird. - Schwester Kaiser?" sprach er Bernds Mutter an, die in Tischnähe abwartend stehen geblieben.
"Ja, Bruder Tobler?"
"Ihr habt doch sicher auch noch einige erbauliche Bücher in eurer Sammlung, nicht wahr, Schwester Kaiser?"
"Da wird sich ganz bestimmt das eine oder andere noch finden, Bruder Tobler", versicherte Bernds Mutter munter.
Bruder Tobler! Schwester Kaiser! gruselte Erfried, fand solche Anreden albern und unpassend. Aber derlei Eigenheit schien in der Bethlehem-Gemeinde wohl üblich. Fürchterlich! Lieber, tausendmal lieber verstopfte Förmlichkeit des Pastors und des Vikars, statt dieser merkwürdigen und befremdlichen Art. Aber er sagte nichts, reichte dem etwas unglücklich dreinschauenden Bernd Kaiser die Hand. "Tag, Bernd!"
"Tag, Erfried! Wir sind noch nicht ganz fertig. Aber gleich ist alles geschafft. Oder habe ich was vergessen, Bruder Tobler?" fragte Bernd unsicher den knochigen Prediger.
"Nein, ich glaube nicht. Wir können gleich das Abschlussgebet sprechen. Setze dich ruhig mit an den Tisch, Erfried", forderte der Prediger mit einer Stimme, welche wohl einnehmend klingen sollte aber genaues Gegenteil bewirkte.
Auch das noch! stöhnte Erfried im Stillen, verbarg erfolgreich tiefes Unbehagen, ließ endlos brausende Gebetsworte des merkwürdigen Predigers gesenkten Hauptes und gefalteter Hände hereinbrechen. Erleichtertes Aufatmen, nachdem endlich erlösendes "Amen!" in der kleinen Runde erscholl.
"So, Erfried Gundeleit heißt du also", ergriff der Prediger sofort wieder das Wort. "Das ist ein ostpreußischer Name. Ihr seid also aus Ostpreußen?"
"Meine Eltern sind aus Westpreußen", betonte Erfried nachdrücklich.
"Nun denn, so groß ist der Unterschied nicht. Und du bist dort nicht mehr geboren. Wäre jedenfalls eine große Ausnahme. Jedenfalls seid ihr evangelisch, stimmt's?"
"Ja, sicher!" War ja nun nicht schwer zu erraten, dachte Erfried missmutig. Wann haut der endlich ab?
"Ich möchte dich ganz herzlich einladen, heute mit Bernd zusammen um fünf Uhr in die Bibelstunde bei uns zu kommen." Des Predigers Worte klangen nicht sehr einladend. Eher dringliche Aufforderung, wogegen kein Widerspruch geduldet.
"Ich gehe in die Bibelstunde der Kirchenjugend hier", suchte Erfried Ausflucht.
"Ah ja, sehr löblich! Aber bei uns ist das alles viel ausführlicher und genauer, junger Freund." Der knochige Prediger erprobte verbindliches Lächeln auf kantigen Gesichtszügen.
Gründlich misslungen, fand Erfried, befürchtete schließlich genau dies, was ihm da gerade als angeblich großer Vorteil vorgemalt.
"Ich will nicht sagen, dass die Landeskirche Falsches lehrt", fuhr der Knochige fort. "Aber in unserer Bethlehem-Gemeinde studieren wir sehr aufmerksam die Heilige Schrift und achten darauf, Gottes Gebote zu befolgen, damit auch wirklich jede gefährdete Seele Errettung erhält. Und unser Herr Jesus rettet in seiner unendlichen Liebe jeden, auch den ärgsten Sünder!"