Idiotenrennbahn, nannten sie jenen Weg durch die lange Hauptgeschäftsstraße der Kleinstadt. Nötig zwischen beiden Kinos, ihrer Grenze mit beleuchteten Schaukästen. Unentwegt pendelten sie diese Strecke hin und her. Eingesperrten Tieren in Zirkuskäfigen auf vergeblicher Suche nach Freiheit ähnlich. Aber jene bunt beworbenen Streifen änderten deshalb ihren Inhalt nicht und die Kinoplakate sahen nicht anders aus, sowenig wie die Umgebung.
Wie oft betrachteten sie an endlosen Nachmittagen und Abenden sehnsuchtsvoll immer wieder denselben Aushang, ankündigte Filme? Sie durften sowieso noch lange nicht rein. Wie lange ist lang? Neben Fernsehschirmen, bildeten solche Schaukästen ihr schmales Fenster zur Welt. Aber es war zugeschlagen und verriegelt und den Schlüssel hatte man weggeworfen oder in strengem Verschluss. Das machte keinen Unterschied. - Aussichtslos!
"Wenn wir dafür jedes Mal fünfzig Pfennig bekämen, dann könnten wir's uns leisten, in die nächste Stadt zu fahren und wenigstens mal was anderes sehen", bemerkte irgendwann ein Schulkamerad missmutig.
Aber man bekam dafür keine fünfzig Pfennige, geschweige denn, eine müde Mark. Im Gegenteil! Kinokarten kosteten ein Mehrfaches und mussten genau und gut überlegt vom kargen Taschengeld abgezählt werden. Auch für verbilligte Jugendvorstellungen. In die hiesige Diskothek durfte man in ihrem Alter ebenfalls noch lange nicht. Ohnehin wenig erstrebenswert für den Jungen. Dort hauptsächlich abgespulte Musik entsprach nicht seinen Vorlieben. Umptata und anderes geisttötendes Gedudel aus Schlagerhitparade entliehen. - Grauenhaft!
Zur Zeit stand für ihn der "Neunzehnte Nervenzusammenbruch" von den Stones an erster Stelle. Beatles fand man allgemein ziemlich fade, inzwischen auch längst von Erwachsenen gemocht. Nicht verwunderlich, bei deren Musik. Einer Musik, worin nichts mehr enthalten, außer verschlungenen Tonfolgen und kunstreicher Sangesdarbietung. Bald zu Schnulze verkommen und schlichtweg nur langweilig. Das poppte nicht die Bohne, riss nur angehende Mamis und Papis zu Aaah und Oooh hin, welche sich bei Cream und Jimmy Hendrix, bei Stones oder Ten Years After ausgeschmalzte Ohren zuhielten. Bei Velvet Underground kriegten sie endgültig ihre Zustände. Von deren eigenen Eltern ganz zu schweigen.
In dieser kleinen Stadt fand man allenfalls noch in der stinklangweiligen italienischen Eisdiele oder einem entsetzlichen Verein etwas andere Kurzweil. Aber welcher Mensch von hinreichendem Verstand mochte in Geistesgrüfte von Kleinstadtsportvereinen tauchen? Selbst für einen Zwölfjährigen - mit einigermaßen wachen Sinnen - endlose Qual an nichtigem Gequassel und erstickender Überwachung. Schließlich schon genug von Nachbarschaft überwacht, die einen in kleinen Städten genau kannte und alles gleich brühwarm vertratschte.
Überall hingen graugesichtige Hausfrauen neugierig in Fenstern, ließen gerötete Glubschaugen über Gassenpflaster streifen, umrahmt von nichtssagend gelockten Einheitsfrisuren. Nicht etwa aus Anteilnahme und freundlichem Interesse an ihren Mitmenschen. Wie kämen sie auch dazu? Sie wussten einfach nichts besseres oder frönten aus purer Geistlosigkeit keinen anderen Neigungen. In ihrer unbeschreiblichen Langeweile sahen sie keinen Ausweg, außer in blinden Nichtigkeiten sumpfen und aus Mücken Elefanten machen. Alle Nachteile gleichzeitig alltäglich gegeben. Die Nachteile eines Dorfes: Jeder kennt jeden, weiß über einen besser Bescheid als man selbst. Und die Nachteile einer Stadt: Keiner will viel mit anderen zu tun haben, blieb vordergründig fremd auf Abstand.
Einzig Frau Biller aus dem Nachbarhaus des Jungen stellte seltene Ausnahme. Sicher, gleichfalls schrecklich neugierig, linste dauernd aus Fenstern, schimpfte auch beständig lauthals über kindlich jugendliche Rasselbanden davor. Aber sie verpetzte die lästige Bande nie und tratschte auch nicht wirklich herum oder zerriss ihren Mund über andere. Bevor Frau Biller petzte oder Mitteilungen bei Nachbarn verstreute, bedurfte es mehr als bloßer Streiche, einer beim Ballspiel unabsichtlich zersplitterten Fensterscheibe oder später Heimkehr anderer Leute. Letzteres gehe andere grundsätzlich feuchten Kehricht an, betonte sie, weshalb man von ihr solche und ähnlich gelagerte 'Neuigkeiten' nicht erfuhr. Nur einmal wurde reihum bekannt, sie habe jemanden angeschwärzt.
Einen halbwüchsigen Bengel, der einige Gassen entfernt wohnte. Typisch ekelhaft eingebildeter Gymnasiast! Der fühlte seine widerliche Pennälerarroganz wohl angekratzt und verprügelte einfach wen anderen, kleiner und jünger als er selbst. Wahrlich mutig! Dem fuhr Frau Biller wie eine Rachegöttin dazwischen, meldete das sogar in dessen Schule und zeigte ihn bei der Polizei an. Damals bedeutete so etwas Riesenmengen Ärger und Verdruss. Und wirklich nicht zu knapp. Er ließ sich nie wieder blicken, mied Frau Biller fortan wie die Pest. Danach stieg sie bei den Gassengören in höchstes Ansehen. Die ganze Bande hätte jeden genussvoll gelyncht, der Frau Biller was tun wollte.
Nein, Frau Biller besaß Eigenschaften, gegensätzlich gelangweilter, platt neugieriger und unbefriedigter Kleinstadthausfrauen und deren vermuffter Ehegesponse. Sie schien im weiten Umkreis die einzige, deren Kümmern echtem Nachbarschaftsgeist entsprang, weshalb ihr gern und auch Jahrzehnte später ihre Argusäugigkeit über den Tod hinaus nachgesehen sei. Ruhe sie in Frieden.
Und dann gab es noch die alte Gräfin Almuth von Dahlendorf. Eine leibhaftige Dame! Etliche Ecken von der Gasse des Jungen entfernt, bewohnte sie nebst großem Anhang ein hübsch anzusehendes Anwesen gehöriger Größe. Freilich, diese schimpfte natürlich keineswegs aus dem zweiten Stock ihres herrschaftlichen Wohnsitzes herunter. Ausgeschlossen! Das erlaubte gräfliches Benehmen nicht. Sie gehörte zu den wenigen Menschen in dieser Dächersammlung, welche nicht unbegründeter Hauch von Welt umgab. Sie fiel dem Jungen ob ungewohnt fabelhafter Manieren überaus auf.