Sein Entschluss stand fest. Statt zwingender Schwarzalbensklaverei, lieber endlose Schwärze des Farbenräubers. Anscheinend einzige sichere Flucht vor Alpfesseln. Alles besser, als solches Dasein! Lieber sterben und keine Maschine mit Bewusstsein, wie ein Roboter fremdem Willen unterworfen. Ohnmächtig erleben, wie er gebraucht, benutzt und schließlich gänzlich seines Selbst beraubt? - Nein! Auf keinen Fall!
Jetzt fühlte er keine Angst mehr vor diesem Fremden. Schlimmer konnte es nicht sein. Hauptsache, es ginge so schnell wie vermutet, lösche zumindest das Bewusstsein. Irre er hernach als leere Hülle schwarzer Augäpfel durch Straßen und Gassen, was kümmert entseelter Körper? - Nichts!
Erste zögerliche Schritte, dann entschiedene. Blick fest und zielgerichtet starr auf eine Stelle: Doppelte Hoftür mit dem Werbewappen! Einsamer Ort. - Noch kannst du umkehren! flüsterte tief innen. Aber der Junge mochte nicht mehr umkehren. Er wollte durch dies Tor und im unordentlich verlassenen Hof dahinter dem dunklen Fremden gegenübertreten. In dessen Augen versinken, darin aufgelöst werden und nicht mehr sein.
Beide Torflügel verschlossen. Außer großem Schlüsselloch, nichts. Keine Klinke, kein Griff. Er drückte dagegen. Hölzern verhöhnte das Tor, knarrte nur leise im Riegel, schwieg hemmend.
Maßlos ärgerlich! Jetzt wollte er unbedingt genau jenes tun, wovor bislang schreiende Angst tobte. Und nun? Nun verrammelte jemand dieses blöde Ding von einem alten Holztor! Einzig über die Mauer klettern... Erfried musterte den steinernen Wall. Glatte Wand! Ohne Leiter liefe nichts. - Mist, verdammter!
Gleichzeitig kehrte Widerstandswille zurück. Auch wenn jetzt der Riegel plötzlich von selbst aufginge, das Tor aufschwänge und der Dieb des Glanzes, der Räuber der Farben aus dem Dunkel dahinter erschiene, stampfe er herausfordernd, ärgerlich, zornig und voller Trotz vorwärts. Soll doch kommen, der Kerl aus dem Jenseits! Oder was immer dessen finstere Heimat sein mag. Er fürchtete ihn nicht! Anspringen, den Dieb, und auffordern, angebotenes endlich nehmen: Sich selbst!
Aber alles blieb still und ruhig. Unschlüssig, wütend und zugleich mutlos stand der Junge da, starrte auf widerstandsfähige Bohlen. Ausgebleichtes Industriewappen und unbekannter Markenname darauf: Horex! - Scheiß was auf Horex! Erbost trat er dagegen.
Es bollerte nur hohl, hallte hämisch aus versperrtem Durchgang zurück. Erfried lauschte angestrengt. - Nichts! Erneut trat er gegen einen Torflügel, wesentlich heftiger. Sein Fuß schmerzte und die Torflügel zitterten. Lautes Wummern schallte über den kleinen Platz. Nach längerem Lauschen eingestanden: Alle Mühe vergeblich! Einfach hier warten, bis der Farbenräuber irgendwann herauskam oder zurück?
Da könnte ich lange warten und mir die Beine in den Bauch stehen! Inzwischen tauchten dann womöglich die Alben auf oder einer von denen. Und dann? Gottverdammte Scheiße, verfluchte! Wo treibt sich dieser mistige Stehlhaken bloß herum?
Erfried überlegte, ob er schreien solle, den Räuber herausfordern, verwarf es wieder. Davon wurde nur die Nachbarschaft rebellisch. Dann ginge gar nichts mehr. Man verscheuche ihn einfach als Störenfried, machte schließlich schon genug Krach. Wahrscheinlich kümmerte den Glanzdieb lautstarkes Brüllen sowieso nicht, so heimlich und leisetreterisch wie der herumschleicht. Und nun regnete es obendrein Bindfäden. Was für ein beschissener Tag!
Vielleicht ist der aber auch gar nicht mehr hier? Aber wo ist dieser Knilch dann? In Urlaub gefahren? - Bestimmt in die Toskana oder nach Capri! Oder in Venedig, gefiederte Stadtratten füttern. Das sähe dem ähnlich, passe prächtig, in irgendeiner stinkigen Zitronenlandgegend herumlungern, in greller Sonne lümmeln und Nudeln mit Tomatensoße schlabbern. Ungeheuer, lateinisches! Keinen Bock mehr auf den Mistkerl!
Bleich und unscheinbar kam schwer bestimmbare Frau mittleren Alters aus nächstgelegener Gasseneinmündung. Kurz sah sie ausdruckslos herüber, blickte wieder geradeaus und wollte den Platz in unbekannte Richtung überqueren. Erfried lief hin und sprach sie an. "Entschuldigen sie bitte, gute Frau! Wissen sie vielleicht zufällig, wem dieses Anwesen dort gehört und wer dort jetzt wohnt?"
Unwillig erstaunt blieb die Frau ruckartig stehen. Zähfließender Blick wanderte Erfrieds ausgestreckten Arm entlang zum hölzernen Tor. Es dauerte eine Weile, bis sie den Mund aufmachte. "Da wohnt schon lange niemand mehr. Und das Ganze dort gehört schon immer dem Doktor Wappler, solange ich mich erinnern kann. Ich wohne schon mein ganzes Leben hier. Seit dem Krieg."
"Doktor Wappler gehört das?" Maßlos überrascht, sprach Erfried unwillkürlich sehr laut.
"Ja, sicher! Was ist denn daran so komisch?" Sie schüttelte unwirsch den Kopf.
"Nichts, nichts, verehrte Frau. Haben sie vielen Dank. Auf Wiedersehen!"
Unscheinbar bleich und unauffällig von Gestalt, ging die Frau grußlos weiter, verschwand im Eingang des niedrigen Hauses beim Brunnen. Das Gebäude mit dem ehemaligen kleinen Laden, von welchem nur noch verklebte Schaufensterscheibe und uralte Werbeaufkleber zeugten.