Unerfreuliche Stille lagerte im Behandlungszimmer des altgedienten Allgemeinarztes. Dr. Heinrich Wappler äugte über dickglasig dunkelrandige Hornbrille hinweg auf eine Frau vor seinem Schreibtisch. Fragend und abwartend sah ihn die Frau unentwegt an. Wo ihre Blicke trafen, schien riesiges Fragezeichen dunstig über dem Schreibtisch zu schweben, vollführte zittrigen Tanz im Dämmerlicht. Durch ihre gemeinsamen Gedanken entstanden, verweilte es wie düsteres Mahnmal, wollte nicht weichen.
Draußen drängte graue Bleiche, von düsteren Regenwolken verschuldet. Dünnfädiger Niederschlag traf Fensterscheiben, machte sie von außen blind. Schon seit Stunden regnete es. Feuchtigkeit dritten Apriltages drang mittlerweile selbst in Häuser. Schließlich machte Dr. Wappler verlegen langsame Bewegung, schaltete die Schreibtischlampe an. Fast schmerzhaft durchschnitt scharfer Schein verdunkeltes Licht nassen Nachmittags, beleuchtete wenigstens die Arbeitsfläche hinreichend.
Aber er knipste sie vielmehr aus bedrängender Unsicherheit an. Heinrich Wappler saß schon zuvor über eine halbe Stunde gedankenverloren brütend im Sessel, bearbeitete keine Patientenakten oder andere Papiere. Dazu im Augenblick auch nicht in der Lage. Seine Praxis geschlossen und der Warteraum leer. Nur allgemein stets vorhandener Geruch von Desinfektionsmitteln wehte kaum noch bemerkt durch feucht angereicherte Innenraumluft. Summen und Surren unentwegter Sterilisationsapparatur im Hintergrund.
Er würde mit dieser Frau sprechen müssen. Darum käme er nicht herum. Er kannte sie sehr gut und ihren starken Willen. Sie wiche nicht von der Stelle, stünde noch morgen Früh am selben Platz und warte auf leidlich befriedigende Antwort. Mit ein paar Allgemeinheiten abspeisen, ginge gleichfalls nicht. Würde sofort bemerkt. Viel zu gebildet und zu klug, nähme sie es ihm sehr übel. Und schlicht abweisen konnte er sie nicht. Ihr Ansinnen hatte nichts Ungehöriges, sondern entsprang sehr menschlichem Fühlen. Außerdem einfach nur herzlos und kränkend, fände dies nirgendwo Verständnis. Und sie verschwiege derlei Gebaren anderen gegenüber sicher nicht. - Wie stünde er dann da?
Dr. Wappler besah seine gepflegten Hände mit den sorgfältig kurzgeschnittenen Fingernägeln, als er endlich brüchig anmutender Stimme das Schweigen brach: "Sie sehen mich sprachlos, liebe Frau Gundeleit. Ich weiß wirklich nicht, wie ich es ausdrücken soll, was ich fühle. Ist es nicht ein Hohn? Ich, ein durch Jahrzehnte seiner Berufstätigkeit alterfahrener Arzt, der schon im letzten grauenvollen Krieg die schrecklichsten Dinge ansehen musste, ist aufgewühlt. Wegen einer Sache, die mit den grässlichsten Verwundungen der armen jungen Männer im Feld nicht entfernt zu vergleichen ist. Jedenfalls rein äußerlich besehen. Aber..." er brach ab, suchte nach Worten, welche beschreiben könnten, was er meinte, fand dafür keine.
Frau Gundeleit stütze noch immer beide Arme auf den Besenstiel, der wie hölzerner Schutz vor ihr hochragte. Sogar Atem stockte zuweilen. So stand sie schon seit geraumer Zeit, halb erstarrt über entsetzliche Nachricht. Ein Geschehen, das selbst diesen vormals so unerschütterlich erscheinenden alten Arzt dermaßen überwältigte. "Und sie können nicht feststellen, was eigentlich mit dem armen Jungen passiert ist, Herr Doktor? Ihr Kollege vom Amt, Dr. Penkau, ließ nur sehr nüchterne kurze Äußerungen hören, dass die Augen seltsam blind seien und die Todesursache vollkommen unklar. Es sei aber nicht der erste solche Fall. Der Aktenlage nach, gab es sechs. Sie wissen ja, ich bin auch dort mehrmals die Woche."
"Wenn ich das könnte, wäre es wenigstens einigermaßen fassbar und trotz seiner Schrecklichkeit irgendwie für mich medizinisch sachlich einzuordnen, Frau Gundeleit."
"Kein einziger Hinweis, der einer vor Kummer kranken Mutter helfen könnte das Unfassliche zumindest etwas hinzunehmen?" Verzweifelte Klage klang heraus.
"Nichts! Das ist es ja gerade. Nur diese entsetzlichen Augen...", wieder brach er ab. Er blickte zu ihr auf. "Ich sollte das vielleicht gar nicht ansprechen, weil es die ganze Sache noch viel schlimmer macht. Was soll es bringen, mit Einzelheiten eine leidgeprüfte Mutter noch tiefer in schiere Verzweiflung zu stürzen?" Erschüttert schwieg er erneut lange Augenblicke. "Selbst wenn ich sage, wie nah mir das geht und wie sehr ich mitfühle, bleibt es doch nur ein sehr geringer Trost. Eigentlich gar keiner. Leer und hohl schallende Worte. - Es tut mir so unsagbar leid!"
"Oh Gott, wie konnte es nur zu so etwas Furchtbarem kommen? Was ist denn nur geschehen?" Auf diese Fragen erwartete sie keine Antwort. Niemand konnte solche Fragen je beantworten, wusste sie trotz allem genau. Tränen entquollen bis dahin brennend trockenen Augen, flossen in traurigen Tropfen Wangen hinunter. Kaum verhaltenes Schluchzen entschlüpfte, schaffte kleine Erleichterung von erstickender Last aufgewühlten Gefühls. Schließlich drängte sie schmerzhaftes Rasen und Pochen im Inneren zurück. "Was war denn mit den Augen, Herr Doktor? Wenn es schon erwähnt wird, dann sollte es auch ausgesprochen werden. Vielleicht hilft es ja doch ein klein wenig."