"Tja, Junge, es tut mir leid, wenn ich dir eben so einen Schrecken eingejagt habe. Das hab' ich so nicht gewollt. Es geht dir aber wohl wieder einigermaßen, oder?"
"Ja, es ist wieder gut. Ich danke ihnen sehr." Gut? - Grauenvoll! Erfrieds Seele hielt das Entsetzen vorerst zur Seite, damit es nicht kreischend auf ihn einstürze. Aber auch so, fürchterlich genug.
"Na, dann kann ich dich ja jetzt auch allein lassen, weil ich nämlich nach Hause will und mich richtig umziehen. Wir haben den Gerd alle sehr gemocht. Der war ein prima Kerl. Es ist wirklich jammerschade um ihn. Die Besten erwischt es meistens am schnellsten. Scheiße ist das! - Wiedersehen, dann!" Prüfend schaute er Erfried an, klopfte ihm harte Bauarbeiterpranke mitfühlend auf die Schulter und ging fort.
Innerlich leer und verlassen stand der Junge lange Zeit, als habe man ihm schmerzlos aber ungeheurer Wucht dickes Brett vor den Kopf geschlagen. Fremd außenstehender Beobachter unwirklichen Traums. Jede Kleinigkeit genau gesehen, jedoch nicht begriffen. Er konnte und wollte es nicht fassen, wollte nicht glauben, wusste jedoch, Gerd Wesselings Arbeitskollege sagte unverblümte Wahrheit. Der aufregende Fund, von dem Thorsten Ruland erzählte! - Ihn beschlich dabei sofort seltsames Gefühl, dumpfe Ahnung, dies könne etwas ähnliches sein, was Herbert Welzer Anfang April widerfuhr.
Gestern wünschte er den eigenen Tod, wollte ständig ausweitendem Irrsinn entgehen, ersehnte ihn sogar. - Und nun? Warum nahm der Glanzdieb nicht mich? - Alles vorbei und ohne Sorgen, müsste er keine Trauer ausstehen und Gerd Wesseling lebte noch. Sein erwachsener Freund Gerd fiel dem Finsteren zum Opfer.
Darum zeigte der Dieb des Glanzes gestern sein hässliches Gesicht nicht! Längst satt vom neuen Raub, brauchte er vorerst keine neue Nahrung, saß sicher lachend im Unterschlupf, hoch erfreut über gelungene Überraschung. Wahrhaft teuflische Überraschung und verwünschtem Inquisitor würdig, sofern tatsächlich ein solcher alter Teufel.
Erfried stellte über wahre Eigenschaften des Farbenräubers keine Fragen. Es konnte nur ein verfluchter und unerlöster Inquisitor sein. Nur diese niederträchtigen Unmenschen bewiesen so viel endlose Bosheit. Selbst der Teufel, an den sie abgründig wahnhaft glaubten, verblasste in zugeschriebener Niedertracht vor ihnen, geriet zum albernen Chorknaben, der Höllenfürst spielen wollte.
"Wartest du auf ein Taxi?"
Erfried ruckte hoch. Männergesicht am Seitenfenster einer Droschke. "Ah, nein!"
"Dann solltest du hier nicht länger stehen bleiben, weil die Leute sonst glauben, du willst einsteigen."
"Ist gut", antwortete der Junge matt, machte lahm erste Schritte.
Alpdruckartig zog alles Gewühl vorbei. - Irgendwo hinsetzen! Wollte er jetzt bis nach Hause gehen, schaffe er es sowieso nicht in einem Stück, niedergeschmettert wie jetzt. Außerdem, was sollte er dort? Im kleinen düsteren Zimmer hocken und grübeln? Seine Mutter und Reinhild kamen bestimmt erst viel später. Bis dahin säße er dort ganz allein verzweifelnden Gedanken ausgeliefert. Unbewusst steuerte er zur kleinen Grünanlage jenseits schmalem Bahnhofsplatz. Dort standen Parkbänke zwischen Blumenrabatten und Bäumen.
Innerlich verloren überquerte er vom Autoverkehr belebte Straße. Helle Hupe schreckte. Aus Wagenschlag schimpfte wer: "Mensch, pass' doch auf, wo du hinläufst! Geh doch über den Zebrastreifen und nicht daneben!"
Er beachtete den Wüterich nicht, bog auf anderer Platzseite in sand- und feinkiesbestreuten Weg, sank auf erstbeste freie Bank. - Eigentlich scheußlicher Platz zum Sitzen. Diese Feigenblattaussparung von einem winzigen Park umbrauste lautstarker Autoverkehr. Unglaublicher Lärm um diese Tageszeit.
Dennoch saßen einige Leute samt Einkauf und Taschen auf spärlichen Bänken. Teilweise schauten sie hin und her flitzenden Autos zu. Fußgänger durchquerten die Anlage jetzt zuhauf, erübrigten peinlich geraden Blumenpflanzungen im unnatürlich geschorenen Rasen keinen Blick. Langweilige, abstoßend übertriebene Ordnung. Erfried starrte sandigen Boden des Weges an, nahm aus der Umgebung nichts wahr. Mittlerweile riss die Wolkendecke auf. Durch Blätterdach weniger Bäume ringsum glitzten wärmende Sonnenstrahlen.
Alles taub. Er spürte nichts, dachte an Gerd Wesseling. - Sie kannten einander bereits über ein Jahr. Doch erst Anfang Mai lernte er ihn richtig kennen. Vor wenig mehr als einem Monat. Schmerzhaft deutlich, welche Lücke dessen Tod riss. Am liebsten wollte er weinen. Es ging nicht. Nicht eine Träne erleichterte. Ausgetrocknet! Tieftraurig drifteten Gedanken zu jenem ersten, sehr warmen Tag dieses Jahres...