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Abermal, Kapitel 26, Seite 01

flackert


Unbeweglichkeit und Starre herrschten, obwohl nüchterner Augenschein dies heftig bestritt. Dennoch bestand es so, konnte nicht abgewiesen werden. Es drängte in späten Tag, blieb klettengleich in Fugen von Minuten und Sekunden hängen, krallte Stunden, verband mit Tagen, Wochen, Monaten und Jahren. - Aber Zeitmaß hat keine Fugen, ist Fließen und Dauern, angezeigt an Zahlen?

Hier gab es plötzlich Fugen, Risse und Spalten! Genug für geeignete Kletten. Nur haftete diese Art Kletten anders als Kletten sonst, heimlich in Stoffe gehakt. Fortgetragen an andere, weit abseits gelegene Stellen, ließen sie abgerissen aber unbeschädigt enthaltenen Samen keimen. Das alles ging hier nicht. Diese Kletten konnte nichts und niemand entfernen.

Drei unterschiedliche Bereiche spiegelten zwei Zustände. Erstarrt und reglos lagen Hier und Dort einander gegenüber. Durchschnitten und zugleich verbunden von fortwährendem Fließen. Seinerseits eigentlich Stillstand, denn es wiederholte denselben Ablauf unermüdlich. Längeres Beobachten bewies diese Widersprüchlichkeit.

Dabei verlief die Zeit nicht nach Maßgabe einer Uhr, sondern nach eigenem, völlig anderem Zifferblatt und Federwerk. Dessen Zeiger liefen mal rascher, mal langsamer, blieben stehen und verfielen dann in rasendes Kreiseln. Irrsinnig gewordene Unruh im Getriebe. - Irrsinnige Unruh? Seit wann können unbelebte Werkteile irrsinnig werden?

Es musste aber so sein. Andere Erklärungen ließ abseitig gegebene Wirklichkeit nicht gelten. Eine Wirklichkeit gegen jede Erfahrung und gegen jedes erkannte Naturgesetz. Und wer mag schon behaupten, die wirkliche, einzig entscheidende Uhr sei geistlos und bestünde aus toten Fügstücken? Immerhin lief und tickte sie seit undenklichen Zeiten. Seit unvorstellbaren Abständen in Welten, Ebenen und Räumen, darin und darum herum. - Tickte und surrte sie nicht eigentlich schon immer, zählte seit Ewigkeiten?

Als ob es noch Steigerung von Ewigkeit geben könnte. Mehr als ewig kann nichts sein. Und gibt es das überhaupt? Ist nicht alles einfach nur jetzt? - Aber dies liefe auf Gleiches hinaus, brächte keinen echten Unterschied. Nur benutzte Worte, Begriffe und Gedanken dazu lauten anders. Solche bedeuteten hierbei nichts.

Trichter klaffte. Runde Wände, zugleich Wirbel, trieben Wirkungen hin und her. Angestoßen von Willen, zurückgeworfen von Wollen, aufgesogen von hartem Wunsch. Mal verengte schmales Trichterende auf einer, dann auf anderer Seite. Aufgerissenes Riesenmaul saugte alles in quetschende Kleinheit. Unvermittelt sprang es um, erzeugte genaues Gegenteil, versetzte wild kreiselnde Wände in Wellen.

Auf jener Seite, der Dieb des Glanzes. Auf dieser Seite, der Junge. Entsetzt sah und spürte er forderndes Saugen zweier Schwarzlöcher. Sie verschmolzen zu einem einzigen, stärkeren. Riesenhaft wuchs es, glitt durch weiterhin schiebenden und stoßenden Autoverkehr, nutzte unaufhaltsam jede Lücke.

Statt Licht, füllte lediglich blasses Glitzern. Rauschen, statt Brodeln, Rumpeln und Dröhnen des Verkehrs. Dieses wandelte zunehmend in betäubendes Brausen, brüllte dabei aber niemals. Es nahm alles in Beschlag, voll und ganz, fraß Stück für Stück vorwärts, kannte keine Hindernisse. In zäh verdickter Luft entstand Flimmern, wie von großer Hitze rauchloser Feuer. Umrisse zerliefen, verzerrten Trichterwände noch mehr. Aufgelöst. - Dem Räuber der Farben ausgeliefert!

Grell und blendend gleißte irgendeine Spiegelung, verschlang jede Sicht. Gefangen auf Frontscheiben langsam kriechender Autos, stach Sonnenlicht gesammelt ins Auge, brannte Netzhaut, jagte durch Nervenbahnen. Geblendet zuckten Lider zusammen, angstvoll abermals geöffnet. - Der Junge sah den Dieb des Glanzes nicht mehr.

Dort, wo er zuvor stand und Gelegenheit suchte, hasteten lediglich Leute über den Gehsteig. Sie bemerkten nichts von alledem. Auch nicht, an ihnen begangenen Raub. Grauer und farbloser eilten sie weiter, sahen weder rechts noch links, wollten nur fort, gönnten einander keine Ruhe. Dazwischen brandeten Blechlawinen, Richtungsblinker zuckten rot und Ampeln wechselten von Grün zu Gelb. Auspuffgase stanken.

Noch immer flirrte es zwischen hier und dort. Aber das Flimmern verengte, verkleinerte zu schmal schlauchartigem Wurm, tanzte hin und her, schwang auf und ab. Blasste schließlich und entließ staubgeschwängerte Luft. Nur seitlich verbarg noch schlierig wallender Bereich halbe Sitzbank, waberte wie von Gluthitze erzeugt. Wüsste der Junge nicht, wer auf der Bank saß, könnte er Ingomars Gestalt nicht erkennen.

Langsam klärte erstaunlicher Kokon. Umrisse des jüngeren Mannes wurden deutlicher. Gebannt beobachte Erfried nie gesehenes Schauspiel, wollte neugierig prüfen, ob im beständig mindernden Flattern etwas enthalten sei. Zaghaft näherte er Fingerspitzen, riss sie erschrocken zurück, taumelte einen Schritt fort. Scheinbar dröhnender Stromschlag. Vollkommen sicher versengten Finger daran. Im nächsten Augenblick verschwand restliches Wabern und Flirren. Ingomar saß reglos aufrecht. Leer starrende Augen. Nur Atembewegungen seines Brustkorbes bewiesen Leben. Schließlich kehrte nach leichtem Zucken gewohntes Bewusstsein heim. Er schüttelte irgendetwas ab, sah hoch, leicht unklaren Blick auf den Jungen geheftet.

"Er ist wieder weg", sagte er unbetont.



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Mannie Manie © 1999
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