"Na, wenn die das spendiert, dann merkt die gute Gräfin es wirklich so gut wie nicht. Die ist tatsächlich alles andere als arm", lachte Ingomar. "Aber Gundrams Schule ist glaube ich sogar besser als so ein doofes Gymnasium. Wie kam's denn dazu, dass die Gräfin sich verwenden will?" Erfried erklärte kurz, weshalb er in gräflicher Bibliothek stöberte. Hinsichtlich Ronnburg, dort aber auch nicht fündig. Ingomar nickte verstehend, parkte bei einer Laterne vor der Bachgasse.
Sie stiegen aus, gingen ins schrumpelig und etwas schief stehende Fachwerkhaus. Fast unter dem Dach, Familie Gundeleits bescheidene Wohnung. - Niemand zuhause. Stille Zimmer. Nur deren Bewohntheit wehte unmissverständlich entgegen. Wie immer, wenn Menschen irgendwo leben oder bestimmte Orte bevorzugen. Solche Plätze sind aufgeladen von Wesen und Treiben, selbst wenn keiner zugegen.
Offenbar dauerten Feiervorbereitungen bei Doktor Wappler erheblich länger, weshalb seine Mutter samt Reinhild bestimmt noch bei Steuerberater Herbst zugange. Erfried kannte dessen Tochter. Maritha! Sehr nettes Mädchen, ungefähr gleichaltrig. Er mochte sie gern. Sie ließ vor Wochen ihre Zuneigung durchblicken. Allerdings nur sehr zurückhaltend. An mehr dachten beide unter lauernden Erwachsenenaugen ohnehin nicht.
In Erfrieds schier winzigem Zimmer wurde es nie sonderlich hell. Durchs einzige Fenster fiel nur sehr schwaches Tageslicht. Daneben ragte gleich eine Mauer des Nachbarhauses. Er packte sämtliche Schulsachen und schrieb am kleinen Arbeitstisch Nachricht für seine Mutter. Auf dem Küchentisch fände sie das Blatt sofort. Ingomar setzte schwungvoller Erwachsenenhandschrift einige freundliche Zeilen darunter. Forschend sah Erfried ihn anschließend an.
Wieder sah Ingomar nicht gerade erfreulich aus. Tief verschattete Augenhöhlen, in deren Hintergrund Augen wie Kohlen glühten. Gewiss, auf keinen Fall hässlicher Zeitgenosse. Ganz im Gegenteil sogar. Dennoch krochen Ängste hoch, Zweifel über diesen jüngeren Mann und dessen Absichten. Erneut erinnerte jetzt alles an zuerst erschreckende Begegnung im großen Vorraum des Perchtenhauses, als draußen Gewittersturm tobte und Ingomar unerwartet und schaurig im Dunkel stand. Auch jetzt ganz ähnlich.
Doch er wusste aus dem Religionsunterricht, auch der Satan soll keineswegs jene Schreckgestalt sein, als welche er gern dargestellt wird. Das sei völliger Unsinn, sagte der Pastor immer wieder, kam die Rede auf den 'Allbösen'. Luzifer sei sogar ein sehr schöner Engel, ein Erzengel. Warum sollte Böses auffallend hässlich daherkommen, seine Eigenschaft vorneweg tragen? Genauso gut mochten überaus gutartige Wesen unansehnlich sein, vom menschlichen Standpunkt betrachtet. Äußerlichkeiten können sehr lügen und man wird rasch davon getäuscht, glaubt nur zu gern, schöne Menschen müssten dem auch innerlich entsprechen.
Das stimme nie oder nur selten, betonte auch seine Mutter stets. Weshalb sollte wer Böses die Dummheit begehen und eigene Bosheit sichtbar verkünden? Wahre Bosheit sei verschlagen und täuschungsreich! Echte Bosheit lügt nicht platt oder ergeht umweglos in plumpe Gewalt. Wirklich Böses konnte gar nicht dumm sein, weil echte Bosheit aus durchtriebenen Lügen und Verdrehungen, aus meisterlichen Quälereien Befriedigung bezieht.
Und was ist, wenn das von Perchtens gewünschte Opfer erst durch ausgesuchte Irreführung wahren Wert für deren Zwecke entfaltet? Wenn es für sie wertlos wird, ging es nicht durch gekonnte Schliche auf hinterlistig süßen Leim, verfinge nicht in ausgefuchsten Fallen und Fallstricken? Was ist, wenn genau dies erst wirkliches Vergnügen bereitet, ausersehene Opfer zur gelungenen Beute macht?
Andererseits spürte er nichts von irgendwie gearteter Gängelung. Gundrams Einflussnahme zeigte andere Auswirkung. Nichts im Inneren tobte jetzt gegen Gedankenwände und Zwänge. Und Ingomars Aussage klang überzeugend, wenn er behauptete, es gebe keine Widerstände, wollte er ihn in seine Gewalt bringen. Wahrscheinlich hege er diese Ängste erst gar nicht oder schob sie bedenkenlos beiseite.
"Was ist, junger Freund?" lächelte Ingomar, sah seinerseits den Jungen an. "Immer noch schwere Bedenken?"
Erfried nickte. "Ich weiß nicht, ob das wirklich richtig ist."
"Die Entscheidung kann und will ich dir nicht abnehmen, Erf. Wenn du dich anders entscheidest, dann zerreißen wir das Blatt und ich verschwinde hier. Bedenke aber die Gefahr, mein Freund! Allein bist du dem Lichträuber schutzlos ausgeliefert, samt allen anderen." Ingomar hielt das Papierstück beidhändig, zerrisse es sofort, wartete nur auf ein Zeichen.
Lange überlegte der Junge, wusste nicht, was er tun sollte. Schwache Erinnerung tauchte hoch. - Sagte Gundram an jenem scheußlichen Abend nicht etwas von erster Schulstunde als Blutsbruder und er müsse viel lernen? Gundram versprach auf seine schaurige Weise, er wolle ihm alles beibringen. Und versuchte der Jungalp nicht mehrfach ein Gespräch, meinte sogar, er müsse etwas erklären? Es schlug offenbar wegen redseliger anderer Gäste jedes mal fehl. - Verlaberte Alben! - Aber ob es so stimmte?