Seit reichlich halber Stunde wartete er auf den Postbus. Aber der wollte und wollte nicht auftauchen. Nicht einmal winziger gelber Fleck schimmerte in Landstraßenferne. Gewöhnliches Anzeichen, keuchendes Postungeheuer auf Rädern weite seine Runde endlich hierher.
Erfried besuchte an diesem Sonnabendnachmittag gute Bekannte seiner Mutter auf dem Lande. Sie stammten ursprünglich aus Ostpommern, bereits nahe Danzig, besaßen dort einst Landwirtschaft. Von magerer Lastenausgleichszahlung kauften sie vor fast fünfzehn Jahren einen kleinen, heruntergekommenen alten Bauernhof, richteten ihn recht schmuck wieder her. Lebten davon aber mehr schlecht, als recht. Zumindest lag bescheiden anmutendes Gehöft ausgesprochen schön in umliegend bergiger Landschaft. Am Rande sehr kleinen Dorfes. Im Hintergrund ansteigende Höhenzüge, frühlingsgrün überzogen von dichtem Mischwald.
Erneut suchte er auf bedrängend eng gehaltenem Fahrplan nützliche Angaben, womöglich vorher übersehen. - Bei diesen Buchstaben braucht man fast schon eine Lupe! - Ärgerlich kniff er Lider zusammen, dabei keineswegs schlechtsichtig. Doch vielfach beigeschriebene Erklärungszeichen boten keine Erklärung, selbst nirgendwo erklärt. - Echt Post und Eisenbahn!
Durch solch hirnrissig heilloses Wirrwarr fanden wohl nur Beamte. Oder auch nicht. Sollten es aber zumindest. Die verbrachen schließlich solche dämlichen Pläne und deren endlos unverständliche Aufmachung. Offenbar glaubten jene staubigen Herrschaften, es gäbe außer Beamten und ihren verqueren Gedankengängen nichts anderes in Deutschland oder überhaupt auf dieser Welt.
Unübersichtliche Liste allen möglichen und unmöglichen Zahlenkrams. Nur nicht, wonach man gerade verzweifelt suchte. Nicht einmal zweifelsfrei, welches Ankunftszeiten und Abfahrtszeiten sein sollten und an welchem Tag sie galten. Gleichfalls konnte lediglich erraten werden, für welche Haltestelle was gedacht. Und das zu allem Überfluss auch noch in vielen unabgegrenzten Spalten nebeneinander hingedruckt. Öde glotzte ein Rechteck voller Zeitnennungen.
Für fast jeden Wochentag gab es andere Angaben, bargen obendrein noch weitere wirre Ausnahmen. Diese besaßen dann allerdings wiederum für andere Tage Geltung, ausgenommen Sonntage und/oder Feiertage oder völlig unerfindlicher Gründe irgendwelche. Meist mehrere unmögliche Jahrestage, jedoch ebenfalls nicht genau erkenntlich. Womöglich Hochzeitstag derzeitigen Postministers, das Sterbedatum seiner Oma mütterlicherseits oder Namenstag dessen armenisch-orthodoxer Geliebter im julianischen Kalender?
Zusätzlich ging die Blendscheibe des vergraut gelben Metallrahmens schon vor längerem kaputt und setzte dickes Papier des Fahrplans ungeschützt der Witterung aus. Ziffern und Buchstaben teilweise ausgebleicht oder vom darauf geklatschten Regen verwaschen. Hässlich wölbte und wellte postamtliches Druckwerk. Dadurch noch unübersichtlicher, als von Haus aus sowieso. - Beamtenquatsch, verquaster!
Rückwärtig näherten Schritte. Alte Frau schaute. Dunkles Kopftuch. Frage in glanzlos gewordenen Augen. Fremder Junge! Sie nickte kaum merklich auf Erfrieds Gruß, wollte schon vorbei. Er sprach die vom Alter gebeugte Frau an.
"Ach, liebe Frau! Bitte, wissen sie, wann endlich der Postbus kommt? Auf diesem Plan kann man kaum etwas lesen." Bedauernd wies er zum traurig gelben Fahrplanrahmen.
Sie blieb stehen. Von vielen Jahrzehnten zerfurchtes Gesicht. Begreifendes Lächeln strahlte. "Das geht uns allen so, mein Junge. Wenn wir nicht einfach so wüssten, wann der Postwagen kommt, dann wüsste das keiner. Du wirst bestimmt noch eine ganze Stunde warten müssen. Die Post fährt nur alle drei Stunden hier durch am Wochenend."
"Das ist ja eine dumme Sache. Haben sie vielen Dank, liebe Frau! Dann werde ich eben ein bisschen an der Straße lang wandern und erst bei der nächsten Haltestelle wieder warten."
"Mach das, mein Junge. Ich bin mein ganzes Leben meistens zu Fuß unterwegs gewesen. Jetzt geht's halt nicht mehr so gut, weil ich schon so alt geworden bin. Freu' dich, wenn dir das noch lange nicht schwerfällt. Kommt noch früh genug, du wirst sehen."
"Na ja, liebe Frau, ich bin noch nicht einmal ganz dreizehn. Da brauche ich mir darüber jetzt noch keine Sorgen machen. Das ist doch wirklich noch sehr lange hin."
"Ja, ja", nickte die Greisin. "In deinem Alter sagte ich mir das auch. Aber die Jahre kommen schließlich immer schneller und in ganz kurzem Abstand. Und eines Tages stellt man fest, dass man alt geworden ist. Steinalt! Und man denkt sich, dass es doch noch gar nicht so lange her sein kann. Manchmal glaube ich sogar, es sei alles erst vor zwei oder drei Jahren passiert, so gut kann ich mich daran erinnern. Aber dann weiß ich auch, dass inzwischen siebzig Jahre vorbei sind, seit ich zwölf war. Mein Gott, fast ein ganzes Jahrhundert... fast ein Jahrhundert... fast ein..." Leise murmelnd ging sie kopfnickend davon. Schleppender Gang.