Stunden schienen verflossen. Es klopfte. Keiner mochte durch 'Herein!' wohligen Abendfrieden brechen. Behutsam öffnete jemand die Tür. Männerstimme sagte gedämpft "Hallo".
Der Stimme nach, Herwig Perchten der Hausherr. Bedachte Schritte näherten, dann erschien seitlich dessen hochgewachsen schlanke Gestalt. Auch er spürte beim Eintritt das besondere Grundgefühl im Raum. Rechts vom Sessel blieb er stehen, folgte verträumten Blicken beider Jungen in dunkelnde Ferne. "Ich störe euch. Das tut mir sehr leid, wenn ich diese schönen Augenblicke zerreiße. Es ist ein wirklich herrlicher Anblick."
Einfach nichts sagen, fand Erfried trotz verzauberter Ruhe unpassend und unhöflich, stand wohlerzogen auf. "Guten Abend, Herr Perchten!"
"Guten Abend, Erf!" Herwig Perchten reichte ihm die Hand. "Wir hatten heute noch gar nicht das Vergnügen miteinander. Schön, dass du bei uns bist! Wir sind alle froh, dass es dir gut geht und freuen uns über deine Anwesenheit. Aber vielleicht wollt jetzt ihr trotzdem zum Abendessen herunter kommen? Es steht alles auf dem Tisch, nur ihr beide fehlt noch zu unser aller Glück."
"Vielen Dank, für ihre Freundlichkeit! Natürlich werden wir gleich nach unten kommen", entgegnete Erfried, von herzlichen Worten und wohlwollender Stimme des Hausherrn sehr angetan. Langsam sank er wieder in den Sessel zurück. Gemeinsam verfielen sie in Schweigen, gaben zu dritt wundersamer Gemütslage nach.
Nach langer stiller Betrachtung meinte Herwig Perchten ruhig: "Schön, ihr beiden! Dann gehe ich schon mal und sage den anderen, ihr seid gerade in einer Zauberwelt unterwegs."
Fast lautlos verschwand dessen Gestalt. Erfried und Gundram folgten wenige Augenblicke später. Im schummrigen Gang draußen huschten schattenhafte Umrisse voraus, flohen an einer Wandkehre aus dem Blickfeld. Nur Knarren von Treppenstufen verriet Herwig Perchtens Weg nach unten. Gundram legte vertraulich, fast unmerklich seinen Arm um Erfrieds Schultern. Der wiederum drückte einverstanden dessen Hand. Frieden geschlossen und endlich echten Bund! Unbeschwert polterten sie anschließend Treppen ins Erdgeschoss hinab.
Im hell erleuchteten Speisezimmer saßen Bewohner und Besucher längst an langer Tafel beisammen. Man wartete tatsächlich nur noch auf Erfried und Gundram, begann inzwischen mit dem Abendessen. Insgesamt sieben Personen blickten auf, unterbrachen gedämpfte Tischgespräche. Unaufdringliche Lautenmusik aus nicht sichtbaren Schallquellen untermalte. Das Fußende der Tafel unbesetzt und heute auch nicht für jemand vorgesehen. Riesenhaft vielarmiger Kerzenleuchter stand dort in vollem Glanz, verbreitete bald festliche Stimmung. Am Kopfende nahmen Nelda und Herwig Perchten ihren angestammten Platz als Hausherrschaft ein. Links deren Kinder. Die Ehrenhälfte rechts den Gästen vorbehalten. Zwei Männer und eine Frau schauten beiden Jungen aufmerksam entgegen.
Ein Gesicht kannte Erfried überhaupt nicht. Die Frau und einen der Männer nur vom Sehen am Abend denkwürdig abscheulichen Samstags. Deren Namen vergaß er längst. Aber man stellte ihn ja so vielen Leuten vor. Zudem keine geeignete Zeit für verwirrende Namenvielzahl.
"Guten Abend, alle zusammen!" grüßten Erfried und Gundram nacheinander. Gundram zog Erfried sofort am Ärmel beiseite, wollte ihn auf großen Tafelstuhl zwischen sich und Swantraut setzen, selber möglichst weit von seinen Eltern entfernt.
Aber Erfried entzog ihm sacht den Arm, umrundete verlockend gedeckte Tafel. "Guten Abend, Frau Perchten! Ich hoffe, meine plötzliche Anwesenheit verursacht keine Ungelegenheiten, weil ich von ihnen uneingeladen hier auftauche."
Nelda Perchten lachte. "Guten Abend, Erf! Wie immer mit vollendet gutem Benimm, der junge Mann." Sie reichte ihm freundlich ihre Rechte. "Wie kommst du denn darauf, du seist womöglich unwillkommen? Mache dir keine Gedanken. Ingomar hat in unser aller Sinne entschieden, weshalb nicht erst bei mir nachgefragt werden brauchte. Wie ich hörte, sind die unangenehmen Missverständnisse inzwischen bereinigt." Tadelnder Blick fiel kurz aber deutlich auf Gundram, der sofort ein Stückchen in seinen Sitz duckte.
Erfried spürte plötzlich, welche Macht diese Frau besaß. - Nicht allein Geltung einer Mutter, sondern anderes, stärkeres im Spiele. Widerspruchslos bestand hier uralte Rollenverteilung zwischen Eheleuten, wonach die Frau des Hauses im Hause und allen darin ablaufenden Dingen unumschränkte Herrschaft, Schlüsselgewalt ausübte. Herwig Perchten käme gar nicht auf den Gedanken, seiner Frau dies in irgendeiner Weise streitig machen, wofür sie ihm wiederum alles zugestand, was Vertretung nach außen anbetraf. - Ausschließlich daran lag es wiederum auch nicht. Wirkliche Gründe warteten tiefer, gekonnt unaufdringlich klargestellt. Frau Nelda brauchte keine äußeren Zeichen ihres Einflusses. Sie hatte ihn! Und jeder merkte es sofort, fühlte deutlich, wie viel mehr bei ihr vorhanden.
"Unsere anderen derzeitigen Hausmitglieder kennst du teilweise vielleicht schon vom Sehen", unterbrach Frau Nelda seinen Gedankenfluss, sprach dunkelhaarige Frau von etwa Mitte dreißig an, ihr an rechter Längsseite am nächsten. "Liebe Ilse-Lore, dies ist Erfried Gundeleit, ein begabter junger Mann."