Am nächsten Tag fragte Erfried betont beiläufig in der Schule herum, ob jemand irgendwas über die Familie Perchten wisse. Aber keiner kannte die Leute an der Ronnburg. Nur Bernd Kaiser wusste, dort lebe eine Familie. Wer sie aber sind, konnte er auch nicht sagen. Bernd Kaiser, ein Jahr jünger und eine Klasse tiefer, wohnte in den Siedlungshäusern, einige hundert Meter davon entfernt. Er wolle mal seine Mutter fragen oder seinen Vater und auch in der Nachbarschaft lange Ohren machen.
Ununterbrochen schwirrte Ingomar durch Erfrieds Kopf. Wie verhext: Ingomar hier, Ingomar dort, Ingomar hinten, Ingomar vorn und noch mal und immer wieder. - Verhext und wunderschön! Herr Bernau, der ihren erkrankten Klassenlehrer für Tage vertrat, rief ihn während des Unterrichts einige Male auf. Aber Erfried kannte gewünschte Antworten nicht. Er hörte gar nicht zu. Tat nur so, als verfolge er gespannt dessen Ausführungen vom Lehrerpult in Rechnen, Raumlehre und Naturkunde.
Herr Bernau tadelte ihn, für so viel Zerstreutheit: "Wo bist du bloß wieder mit deinen Gedanken? Ein bisschen mehr Anteilnahme sollte der werte Herr Gundeleit schon an den Tag legen! Ich hoffe, das wird kein Dauerzustand!"
Nach Schulschluss ging Erfried gedankenverloren nach Hause, nach wie vor Ingomar im Kopf.
Niemand daheim, alles ausgeflogen. Mutter zu Dr. Wappler die Praxis putzen und seine kleine Schwester Reinhild irgendwo in der Nachbarschaft. Sicher bei einer ihrer Freundinnen. Sie spielten dort stets mit Puppen, nannten gehörigen Vorrat daran ihr Eigen. Eingepackt in dicke Warmhaltehaube stand auf dem Herd ein großer Kochtopf Grüne-Bohnen-Eintopf mit saurer Sahne. Erfrieds Lieblingsgericht! Seine Mutter machte das oft, wollte sie ihm eine Freude machen. Es schmeckte vorzüglich und er aß gleich drei Teller voll. Gedanken ganz woanders. Vorfreude aufs Wiedersehen mit Ingomar und dessen jüngerem Bruder.
Wie mochte der wohl sein? Ingomar sagte, er sei manchmal sehr verschlossen oder sogar seltsam. Ob er mit ihm gut auskam? Anfreunden? Warum nicht? Ingomar meinte überzeugt, sie kämen miteinander klar, müssten also ungefähr auf einer Stufe stehen. Altersmäßig unterschied sie allerdings über ein Jahr. Ein Jahr und etwa vier Monate. Gewöhnlich reichlicher Abstand in ihrem Lebensabschnitt. - Mal sehen!
Er stand auf, spülte den Teller kurz unter Wasserhahn ab und stellte ihn in die Spüle. Dann ging er nach draußen. Er hielt es in der kleinen Wohnung einfach nicht aus, musste was anderes sehen. Keine Lust auf Hausaufgaben. Die können bis zum Abend warten, wie an anderen Tagen auch. Seine Mutter schimpfte ständig, wenn er Schularbeiten erst abends erledigte. - Soll sie schimpfen! Schularbeiten sind doof!
Auf der Bachgasse umfing trüber Tag und unterkühlte Luft. Üblicherweise brachten Gewitter Wetterumschwung zum Schlechteren. Ab und an nieselte es aus träge schaukelnden Wolken. Grauer Überzug am Himmel. Nur hier und da kleine Löcher oder dünne Stellen, wodurch leidlich Sonne blinkte aber gleich wieder die Flucht ergriff. Heute beeindruckte ihn das kein bisschen. Innere Sonne wärmte seit gestern. Sonstige Änderung spürte er auch, konnte nicht sagen, worin diese bestehe. Alle Versuche und Ausschau ergaben nichts. Es entglitt, tarnte hartnäckig sein Wesen. - Merkwürdiges Gefühl.
Auf dem nahen Marktplatz traf er Günter Meinrad. Sehr netter Kerl! Einziger aus einer Klasse von vierundzwanzig, mit dem ihn seit drei Jahren richtige Freundschaft verband. Im Gegensatz zu allen übrigen Klassenkameraden. Sie trieben jene Spiele, welche Jungen in diesem Alter miteinander so treiben. Dennoch blieb eine unerklärliche Leere. Ingomars Einschätzung traf recht genau, er könne mit all denen kaum etwas anfangen, sei ihnen irgendwie voraus. Selbst kam er noch gar nicht auf diesen Gedanken, fühlte es nur unbestimmt. Auch Günter langweilte manchmal. Sonderlich Bedeutungsvolles tauschten sie nie aus. Es gab nichts, lief mittlerweile alles in gewohnten Bahnen dahin.
Stimmt! stellte er im selben Augenblick blitzartig fest. Günter konnte das nicht, konnte nichts geben, wozu er gar nicht fähig. Und es von ihm verlangen, wäre ungerecht. Was nicht da ist, geht einfach nicht. Man tauschte heiß geliebte Schundhefte, las sie zusammen, ging miteinander ins Kino, schwärmte von den gleichen Mädchen oder Filmschauspielerinnen und Filmhelden, mochte sogar dieselbe Musik. Eigentlich müsste es die tollste Freundschaft der Welt sein, bei dermaßen viel Gemeinsamkeit. Günter sah dies sicher so. Aber Erfried ahnte schon lange, wirklich Entscheidendes fehle dabei. An sich mochte er Günter Meinrad sehr gern. Ein fabelhafter Freund! Das allein schien jedoch keineswegs ausreichend. - Was konnte also fehlen?