Immerhin lag sein Wille also nicht vollkommen und jeden Augenblick gefesselt, gefangen hinter weißlich giftigem Nebel. Aber auch Ingomar könnte jetzt kaum helfen, selbst wenn er wollte. Er musste fortgegangen sein, jedenfalls aus Räumen des Erdgeschosses verschwunden. Und womöglich wollte er dem Jungen gar nicht beistehen. Schließlich verursachte erst dessen nachdrückliche Einladung dieses Verhängnis. Alles beabsichtigt? Er drang unbedingt darauf, warb unverhohlen, Erfried solle Gundram kennen lernen! - Der Junge sah keinen Ausweg, gab den Kampf auf, wollte auf bessere Gelegenheit warten, wo seines Sklavenhalters Aufmerksamkeit ausreichend abgelenkt.
Inzwischen wandelte geselliges Beisammensein der Alptraumgesellschaft wieder in gehabten Bahnen. Zuvor sprach man Gundram und seinem unfreiwilligen Blutsbruder sogar Glückwünsche aus. Hohnvoll plätscherten Worte. Fetzen ätzender Sätze flogen an Erfrieds Ohren vorbei: " Da könnt ihr euch aber freuen... Alles Gute für eure Freundschaft... Ihr seid wirklich zwei nette Burschen... lasst euch niemals... ihr werdet sehen... wie romantisch... in meiner Jugend... und heute Nacht... die Feuerfeier... wie schön, dass es noch so was... ich dachte, das wär' aus der Mode... wir haben uns damals auch so... ganz wunderbar..."
Endlos und quälend währte hämischer Reigen. Zwei jüngere Frauen nahmen Gundram in die Mitte, entführten ihn zu ihrem Platz. Erfreut hochrote Köpfe. Dreifach gierig glitzernde Augen musterten Erfried fortdauernd. Vor allem Gundram ließ kaum einen Blick von ihm. Den Jungen selbst nahmen andere in Beschlag, redeten unablässig auf ihn ein, bis Gehörgänge dröhnten. Das wölfische Paar brach scheußlich lächelnd irgendwann auf, versprach nachdrücklich die Nachricht an Erfrieds Mutter. Auf jeden Fall! Nun half ihm nichts und niemand mehr. Kein Fluchtweg offen.
Geraume Zeit später schien Gelegenheit geboten. Gundram stand abgekehrt auf der fernen anderen Seite des Raumes, führte schulterklopfend anregendes Gespräch mit mehreren Gästen gleichzeitig. Nicht nur dort Herr der Runde! vermutete Erfrieds geschwächter Verstand blitzartig.
Gundram, eigentlicher Herrscher des Hauses Perchten, Herr der Ronnburg? Seine Eltern gestatteten blutige Besitzergreifung! - Wie sonst möglich? Weshalb beachtete man dessen Ankündigung derart, fand wenig verwunderlich am tropfenden Blut?
Alles deutete Erfried darauf hin, während er verstohlen hinübersah, inständig hoffte, der versklavende Alp spüre seine Gedanken noch nicht, fahre plötzlich herum, kette erneut mit bloßem Blick. Gundram widmete gerade volle Aufmerksamkeit anderen. Hinreichend beschäftigt.
Möglichst gleichmütig machte Erfried vorsichtig ersten Schritt, dann weitere. Nicht an Flucht denken! Er ließ Gedanken kommen und gehen, kreisen und wieder verschwinden, erreichte erstes Teilziel, trat durch große offenstehende Tür in den Vorraum. Schwirrende Gespräche und nebliger Alpdruck blieben zurück.
Wesentlich weniger Licht im großen Eingangsflur, seinen Augen noch ungewohnt. Aber dann erkannte er alles genau. Bei der Garderobe am Ausgang standen immer noch oder erneut einige Gäste, redeten angeregt miteinander, tranken Schlucke aus Gläsern in krallenden Händen, knabberten Kleinigkeiten. Jetzt bemerkten sie ihn, sahen ihn an.
Bohrende Blicke! Erfried glaubte schon, sie wollten augenblicklich Lärm schlagen oder gemeinsam losstürzen, weil ausersehenes Opfer eigene Wege suchte. Aber sie beachteten ihn nicht groß, nickten kurz und sprachen in einer Zunge, welche er nicht verstand. Kein Englisch und auch kein Französisch. Beklommen tappte er an bedrohlich aufragenden Schatten lauernder Erscheinungen vorbei. Sie wirkten wie grausame Torwächter aus anderen Welten, aus dem Jenseits.
Wie viele Jenseits mochte es geben? - Diese Gestalten hier mussten dem Reich der Dunkelalben entstammen.
Stechend sah ihn ein sehr sehniger Mann plötzlich an. Schwarzes Haar, ebensolche dicht geschwungenen Brauen, sonnengewohnte Haut. Glühend funkelten dunkle Pupillen leuchtweißer Augäpfel. Knisternde Spannung trieb in die Luft, blieb unerträglich hängen. Der fremdländisch ausschauende Mann führte einen Happen in den Mund, eindringlich und auffallend. Sein Lächeln verkündete blanke Gier. Seltsam aufwärts schwingender Kopfbewegung drehte er weg, gab weiblicher Person auf deren Frage oder Bemerkung Bescheid.
Erfried atmete durch, verscheuchte kurze Erstarrung, machte gleichmütig weitere Schritte. Angstvoll an vermuteten Dunkelalben vorbei. - Nichts geschah! - Niemand hielt ihn fest oder hinderte irgendwie. Erleichtert trat er auf die Schwelle, vor die Haustür, ging ohne auffällige Hast in nachtdunklen großen Parkgarten. Zügig zur nächsten Buschzeile. Unbehelligt. Heißeste Hoffnung gesamten Abends erfüllt. Hinter Büschen suchenden Blicken entzogen, wollte er losrennen, flüchten, so schnell ihn ungeduldige Beine trugen. Begütigend raschelte taufeuchtes Gras unter Füßen. Freudige Zustimmung? Er schlich hinter lastend schwarze Gebüsche, sah kurz zurück.