Über Nacht besserte das Wetter etwas. Nicht mehr ausgesprochen regnerisch und allgemein feucht. Lücken in grauer Wolkendecke ließen da und dort weniges Himmelsblau und vereinzelte Sonnenstrahlen hindurchlachen. Sie verschwanden aber meist gleich wieder, wichen gleichförmiger Schmutzfarbe. Ungewohnt kühl musste es sein. Durch offenstehendes Fenster wehte kalter Hauch, ließ frösteln. Erst recht, wenn man dem warmen Schutz des Bettes entsteigen soll.
Erfried erwachte aus schlechtem Schlaf, machte auch solches Gesicht. Weiterhin geträumte, einander ständig abwechselnde Gesichter des Glanzdiebes und des Doktors vor Augen. Zugleich füllte teuflische Blutfarbe der Inquisitorenrobe sein Blickfeld. Abscheuliches Höllenrot. Widerwillig blasste es langsam, wurde fadenscheinig und durchsichtig, verlor boshafte Hässlichkeit deshalb nicht. Erst als er in die Küche kam, verschwand es endlich, schwebte als wässrig rötlicher Dunst, drängte in Raumecken, verharrte darin. - Wollte es bessere Zeiten abwarten? Können solche Zeiten überhaupt besser sein?
"Guten Morgen, Mama", grüßte er müde. Reinhild schlief noch. In den ersten Klassen begann der Unterricht meist später.
"Guten Morgen, Erfried!" Eleonore Gundeleit blickte ihren Sohn an. Sofort fiel ihr Mattigkeit in dessen Stimme auf. "Du siehst aber gar nicht gut aus heute. Bist du krank? Hast du Fieber?"
"Nein, Mama. Ich habe nur nicht sehr gut geschlafen."
"Du bist doch gestern schon ziemlich früh ins Bett gegangen. Und da hast du nicht ausgeschlafen?"
"Jedenfalls fühle ich mich nicht sehr ausgeschlafen, habe dauernd so schlecht geträumt und wurde immer wieder wach."
"Mit dir stimmt doch was nicht, Junge", stellte sie entschieden fest. Ihr entging seine Veränderung in letzter Zeit nicht.
"Es ist alles in Ordnung, Mama." Wenn du wüsstest! dachte er. Aber wie sollte er es ihr sagen? Es gab keine Möglichkeit.
"Also, ich weiß nicht. Seit etwa einer Woche bist du völlig anders. Du hast dich innerhalb weniger Tage so verändert. Und da willst du behaupten, es sei alles in Ordnung?"
Natürlich habe ich mich verändert, dachte Erfried trotzig. Aber wenn du wüsstest, liebe Mutter, wie sehr du dich innerhalb eines Wochenendes verändert hast? "Ich bin nur müde, sonst nichts, Mama."
"Du solltest einmal zu Herrn Doktor Wappler in die Sprechstunde gehen, Erfried. Herr Doktor Wappler ist ein sehr guter und erfahrener Hausarzt. Ich werde heute nachmittag sowieso wieder dort sein, da kann ich ihm gleich mal sagen, dass du kommen wirst."
"Ach nein, Mama! Lass' das bleiben, bitte. Mir fehlt nichts, ich bin völlig gesund, nur unausgeschlafen. Das ist alles. Vielleicht habe ich sogar einfach zuviel geschlafen, weil ich so früh ins Bett gegangen bin. Das gibt es doch."
Ausgerechnet bei Doktor Wappler in die Sprechstunde! Erfried verspürte auch sonst keinerlei Lust auf irgendwelche Ärzte. Jetzt sowieso nicht mehr. Gestriger Anfall von Lebensmüdigkeit verflog über Nacht, obgleich er auch heute dem Dieb des Glanzes wild entschlossen entgegenträte. Er fürchtete dessen Augen nicht mehr, oder was bei diesem befremdlichen Wesen anstelle Augen lauert. Was sollte er bei Doktor Wappler? Der könnte mit seinem wirklichen Anliegen sowieso nichts anfangen. Da konnte dem hundertmal das Haus gehören, worin der Farbenräuber sein heimlich unheimliches Wesen trieb. Dafür schien Herr Wappler kaum verantwortlich.
Oder doch? - Erfried beschlich erneut unbestimmter Verdacht. Das muss der Herr Doktor doch irgendwann merken, wenn da unerlaubt jemand nistet? Oder kümmert den sein Besitz so wenig? Eigentlich schwer vorstellbar, bei einem derart korrekten Herrn.
Aber jeder hat seine schwachen Seiten. Vielleicht ist genau solch unverständliche Schlamperei die Schwachstelle des alten Arztes. Zudem glaubte Erfried mittlerweile, nur er selbst sehe den Räuber der Farben und dessen Diebstahl richtig. Doktor Wappler bemerkte den unheimlichen Gast dann so wenig wie alle übrigen Leute hier. Und deutliche Spuren oder ersichtliche Unordnung hinterließ der Dieb des Glanzes im gammelnden Anwesen kaum, blieb deshalb auch dem alten Hausarzt verborgen.
"Na, schön", lenkte Eleonore Gundeleit ein. "Aber wenn das so weitergeht, dann bestehe ich darauf, dass du zu Herrn Doktor Wappler oder einem anderen Arzt gehst. Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn eine Sache in ihrer Entstehung rechtzeitig erkannt wird, dann ist sie viel leichter und folgenloser wieder ins Lot zu bringen."
"Ja, Mama, du hast ja recht. Aber ich fühle mich nicht krank. Soll ich trotzdem zuhause bleiben?"
"Schule schwänzen?" lachte Eleonore Gundeleit. "So war das nun nicht gemeint, mein Sohn."
"Und wenn ich jetzt sage, dass ich mich nicht wohl fühle?"
"Nachdem du mir zuvor erfolgreich das Gegenteil eingeredet hast und nicht zum Arzt gehen willst?" Wieder lachte sie belustigt.
"Vielleicht ist es ja gerade die Schule, die krank macht."
"Aha! Nun ja, in deinem Alter habe ich das auch so gesagt. Vergiss nicht, dass sich manche Dinge nie ändern. Vor allen Dingen nicht, die faulen Ausreden. An meine eigenen kann ich mich im Gegensatz zu anderen Eltern noch sehr gut erinnern, junger Mann."