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Abermal, Kapitel 16, Seite 06

flackert


"Nachdem er tot war?" Rudolf nickte. "Wieso, was war denn mit seinen Augen?" Gerd Wesseling wurde plötzlich hellhörig.

"Er hatte eigentlich keine mehr. Nur noch zwei völlig schwarze Dinger in den Höhlen, die vorher seine Augäpfel gewesen sein mussten. Das war richtig schaurig!"

"Wann hast du denn das gesehen, der Sarg war doch zu, denke ich?"

"Am Tag vor der Beerdigung bin ich in die Friedhofshalle gegangen, wollte mich allein von ihm verabschieden. Da war der Sarg nicht verschlossen. Ich machte den Deckel auf und sah es hinter den durchscheinenden Lidern ganz finster schimmern. Ich wunderte mich, was es sein könnte, weil Herbert doch helle Augen hatte, wie wir alle in unserer Familie. Da habe ich mich überwunden und die Lider hochgezogen. Es war... furchtbar..."

"Er ist doch amtlich obduziert worden, soviel ich weiß. Vielleicht ist es dabei passiert?"

"Wie sollte denn das passiert sein? Ich hab' mit einem Medizinstudenten darüber gesprochen, der kurz vor seinem Examen steht. Der konnte mir keine Erklärung dafür geben, glaubte wohl sogar, ich wolle ihn verkohlen. Wenn einer, der schon fast ein fertiger Arzt ist, das für unmöglich hält oder für eine platte Verarsche, dann hat es bestimmt nichts mit der Obduktion zu tun gehabt. - Nein! Das ist was ganz anderes!"

"Manche Dinge sind zu absonderlich und wir sollten nicht danach forschen!"

Gerd Wesselings Stimme ließ Rudolf Welzer hochfahren. Fremdheit klang darin. Eine Fremdheit, wie er sie vorher noch nie bei diesem älteren Kameraden feststellte. Schlagartig änderte alles und jedes im Raum gewohnte Eigenschaften, sauste wie von plötzlichem Sturm getrieben in den Hintergrund. Als habe ihn etwas verbrannt, ruckte er zurück, starrte sein Gegenüber mit aufgerissenen Augen an. Zweifelsohne das Gesicht des Ringertrainers, seit vielen Jahren bekannt. - Aber der Ausdruck darin: So fremd, wie nur was!

Zuvor noch vertraulich an Gerd gelehnt, hielt er nun geradezu ängstlichen Abstand. Nicht dunkel gesprochene Worte selbst schreckten, sondern wie sie gesprochen wurden. Ihr Unterton. Abgründe klafften dahinter. Abgründe, tiefer als jede vorstellbare Gruft. Doch ebenso kalt, klamm und erstickend. Alles unfassbar. Er konnte es nicht einordnen. - Und dieser urplötzlich veränderte Gesichtsausdruck!

Rudolf Welzer konnte nicht sagen, was es auslöste und woran es genau lag. Aber diesen Gerd Wesseling hier kannte er plötzlich nicht mehr, schien jetzt ungeläufig, wie ein Lebewesen vom anderen Stern. Befremdende Erscheinung jenseitiger Gefilde, welche noch kein Mensch sah. Bleierne Schwere wälzte heran, wollte erreichen, fangen. Er konnte nicht fliehen, keinen Schritt tun. Festgenagelt!

Alles verschwamm ringsherum, verlor Umriss und Einzelheit. Aufgelöst, beängstigend ungenau. Zugleich riss unwiderstehlicher Wirbel daran. Dröhnendes Schwindelgefühl überfiel. Nur noch fern schallten Gespräche anderer Feiernder. Undeutlich jammerten Klangfetzen, ursprünglich Musik im Hintergrund. Satter Nebel schob vor alles, ließ die Sportsfreunde mehr und mehr in ätzendem Dunst verschwinden, fraß gesamten Raum. Jede Gerade zerlief in Schlieren, schlug platzende Blasen. Jede Rundung sackte zusammen, aufgesogen von scharfen Punkten. Ihrerseits verschwanden danach diese, als seien sie überfressen, schwer und voll, jäh in andere Räume gestürzt. Bleiche Tropfen trieben wackelndes Unwesen, zerstoben zu winzigen Blitzen, glitzerten.

"Was ist mit dir? Ist dir schlecht geworden?" Unwirklich drang Gerd Wesselings Stimme ins Bewusstsein, schaffte schneidenden Platz zwischen schlenkernde Gedankensprünge. "He, Rudi! Was ist mit dir los?" Besorgnis in Worten. Hohl hallten sie im Kopf, als kämen sie aus leeren Tiefen, weit entfernt. Gerd trat vor, fasste den jungen Ringer am Oberarm. "Willst du dich besser hinsetzen? Dir scheint nicht gut zu sein."

Langsam, sehr langsam, schwand weißlicher Nebel, traten Umrisse und verblasste Farben erneut hervor. Ringsum wogten wieder ausgelassene Stimmen anderer. Abermals Musik im Hintergrund. Vorher vereinzelte Töne neu geordnet aneinandergefügt. Aufgetaucht aus dumpfer Wattigkeit Gedröhne. Rudolf Welzer atmete durch, wich von den Händen des Trainers weg. "Es ist nichts weiter. Mir ist nur kurz schwindlig geworden. Ich glaube, ich sollte besser nach Hause gehen und mich ins Bett legen."

"Soll ich dich nach Hause fahren? Vielleicht solltest du dich nicht aufs Motorrad setzen, wenn dir schwindlig ist", bot Gerd mahnend an.

"Nein, nein, vielen Dank! Ich hab' ja nichts mit Alkohol getrunken. Und jetzt ist es auch schon wieder vorbei. Ich bin wohl einfach nur müde und muss schlafen", verwehrte Rudolf Welzer.

"Auch dann solltest du vielleicht besser nicht selbst fahren, Rudi. Ich will sowieso nicht mehr sehr lange bleiben. Da macht es mir nichts aus, wenn ich jetzt schon abhaue. Das macht mir keine Umstände, mach' es gerne für dich."



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