Sind Perchtens oder deren Vorfahren die wahren Urheber aufkommender Ereignisse? Warum sprachen dann Ingomar und dessen Mutter Warnungen aus? Daran konnte ihnen doch wenig liegen? Selbstverrat? - Wozu? Warum warnte die Gräfin in genau denselben Worten vor Verborgenem hinter tanzenden Stäuben im Lichtstrahl? Bargen beide Familien, die offenbar älteren Perchtens und jüngeren Dahlendorfs, gemeinsame 'Leichen' in ihren Kellern? - Nicht verwunderlich, nach allem, was die Gräfin über beider Sippen Geschichte verriet. In irgendeiner dunklen Weise hingen sie schon lange miteinander im Gemenge. Aber was verband sie?
Die Grafensippe drängte ganz selbstverständlich nach äußerer, offenbarer Macht und entsprechendem Besitz. Ganz normal für Grafen und Adel, seit je raffgierig und geltungssüchtig bis zur Niedertracht. Die Perchtensippe legte auf all das keinen gesteigerten Wert, nahm nicht einmal einen Adelstitel an. Und den verweigerte ihnen niemand. Schon aufgrund alter Ahnenreihe und freien Standes wüchse er ihnen in früheren Jahrhunderten zu. Sie wollten einfach nicht.
Beherrschten in Wirklichkeit die Leute vom Haus an der Ronnburg stets diese Gegend? Die Grafen nur deren Galionsfiguren? Aber wie ging das bei leutseliger und unabgehobener Verhaltensweise von Ingomar und dessen Mutter Nelda überein?
Beide ganz sicher keine alltäglichen Leute. Doch mit adliger Lebensweise Gräfin Dahlendorfs und ihrem Anhang zeigten sie herzlich wenig Gemeinsamkeit, machten vielmehr den Eindruck gebildeter Familie gehobenen aber nicht abgehobenen Mittelstands. Perchtens wirkten fast wie gewöhnliche Nachbarn, welche ihre Ruhe haben wollten und ihr eigenes Leben nur ganz auf ihre Art leben mochten. - Besonders ausgefeilte Tarnung?
Fröhliche Kinderstimmen nebenan rissen aus Grübeleien. Reinhild und deren Spielkameradin Margarete kamen. Erfried ging aus dem Zimmer. "Hallo, ihr beiden Hübschen! Hat eine von euch Hunger?"
"Nein, nein!" tönte zweifach.
"Du willst auch nichts zu Abend essen, Reinhild? Mama hat uns was vorbereitet. Ich brauche nur Brot schneiden."
"Ach, nein, danke, Erfried. Wir haben vorhin schon was gegessen und es gab auch viel Schokolade und Kuchen und Bonbons und andere gute Sachen. Ich hab' jetzt überhaupt keinen Hunger." Beide wirkten pappsatt und zufrieden. Offensichtlich mit Süßigkeiten vollgestopft.
"Na, schön. Aber petz' dann nicht bei Mama, ich hätte dir nichts machen wollen."
"Na hör' mal! Das mache ich doch nicht", antwortete Reinhild geradezu beleidigt.
"Ist ja schon gut, Kleines. Bleib' jetzt aber bitte zu Hause, weil Mama auch bald kommt und du nach acht ins Bett sollst."
"Ich will aber nicht um acht ins Bett!" wehrte Reinhild unwillig ab.
"Weiß ich. Aber Mama sagte, dass du nach acht in die Federn sollst. Bleib' wenigstens Zuhause, sonst meckert Mama mit mir."
"Ja! Wir spielen dann noch mit unseren Puppen." Margarete hielt eine Puppe hoch, fast so groß wie sie selbst.
Erfried zuckte vor dem Mädchenspielzeug zurück. Wo normalerweise klappende Schlafaugen gläsern starre Blicke zeigten, gähnten leere Höhlen, vollkommen schwarz. Er fing kurzen Schreck ab. "Was ist denn mit deiner Puppe passiert?"
"Die muss zum Puppendoktor. Die ist mir die Treppe runtergefallen und danach fehlten die Augen. Die sind jetzt da drin." Margarete schüttelte ihre Puppe. Es klapperte innen.
"Na, hoffentlich fürchtet sich deine Puppe nicht vor dem Onkel Doktor."
"Wenn ich und meine Mutter dabei sind, hat sie bestimmt keine Angst", meinte die Kleine treuherzig.
"Na, dann spielt mal noch schön. Ich muss noch meine Schularbeiten fertigmachen. Ich bin in meinem Zimmer, wenn etwas ist. Alles klar?"
"Ja, Erfried!" scholl aus beiden Mädchenmündern. Sie verschwanden ins Wohnzimmer.
Erfried ging wieder zurück, bemerkte geringen Fortschritt seiner Schularbeiten missmutig. Zu sehr hing er beständig anderen Gedanken nach. Nichts richtig erledigt und bald sieben Uhr abends. Ohne weitere Abschweifung arbeitete er los. Beruhigend klangen nebenan fröhlich plappernde und kichernde Mädchen.
Kurz vor acht Uhr ging die kleine Margarete nach Hause. Erfried musste schwere Überzeugungsarbeit bei seiner neunjährigen Schwester leisten. Unbedingt wollte sie noch mit Margarete zu Nachbarn. Nachdem gutes Zureden nichts fruchtete, hielt er sie kurzerhand am Arm fest. Wütende Widerworte. Erfried kümmerte es nicht und scheuchte sie ins Wohnzimmer.
Reinhild saß schmollend bei ihren Puppen in der Ecke. "Du bist gemein!"
"Rede keinen Quatsch, Reinhild! Du weißt genau, was Mama sagen würde, wenn ich zugelassen hätte, dass du noch mal abhaust. Also hör auf zu meckern!" Beleidigt streckte sie ihm ihre Zunge heraus. Erfried machte einfach die Tür zu.
Er spürte Hunger. Zeit für Abendbrot. Reinhild wollte immer noch nichts essen, was verständlich erschien. Er kannte die Nachbarsleute. Stets stopften sie ihren Kindern und deren Gespielen ständig was in kleine gefräßige Rachen. Deren drei Kinder und sie selbst liefen entsprechend umfangreich einher. Alles keine Muskeln, sondern gehöriger Fettvorrat. Bei Hungersnot ausreichende Eigenzehrung.
Gegen halb neun kam Eleonore Gundeleit von der Bibelstunde zurück. Mittlerweile gewohntes Abendgebet am Freitag und einige peinliche Bibelsprüche. Beide ließen es ergeben hereinbrechen. Morgen abend gäbe es derlei Unpässlichkeit nicht mehr.