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Abermal, Kapitel 03, Seite 01

flackert


Seltsamer Fingernagel! - Wie kratzender Dorn ragte er nach oben. Genauso steil und scharf stach er in jeden betrachtenden Blick.

Dieser außergewöhnliche Nagel stachelte an keiner ungepflegten Hand vom kleinen linken Finger. Eindeutig Männerhand. Jede Bewegung dem Fingernagel angemessen. Und obwohl der kleine Finger stets leicht abgespreizt, wirkten Bewegungen und gesamtes Erscheinungsbild niemals geziert oder übertrieben, weder geschraubt, noch sonst unpassend. Gezeigtes Gebaren musste so sein. Frauen dürften es anders, was bei Männern nur lächerlich und albern aussähe. Doch genau dies geschah nicht. Ganz selbstverständlich beanspruchte der scharfe lange Fingernagel seinen Platz und forderte jene Gestik.

Weshalb? Welchem Zweck diente der lange Fingernagel? - Ausgerechnet in unscheinbar kleiner Bahnhofshalle schallte die Frage von weiß gekalkten Wänden und Scheiben zweier Fahrkartenschalter am anderen Ende wortlos wider. Seltsam allein stand dieser merkwürdige Mensch mit dem langen Fingernagel am kleinen linken Finger inmitten kalt gefliester niedriger Halle. Reglose Miene.

Auch aus eng bemessenem Zeitungsstand wollten wissbegierige Augen der Verkäuferin diese Frage stellen. Mehrfach schnellte ihr Blick hervor, zwischen Gestellen voller mehr oder minder guter Taschenbücher. Scheinbar prüfte sie Anordnungen von Zeitschriften mit halbnackten Frauen, billigen Romanschmökern, bunten Heften und anderen vielfach schon besehenen Druckerzeugnissen, die dort gern locken wollten. Sie musste aber anderes tun, statt beständig nach diesem Fremden schauen, bediente eilfertig ihre Kunden und verschwand im winzigen Hintergrund des Verkaufsstands hinter Glas.

Andere Leute gingen oder hasteten vorbei, beachteten den jüngeren Mann nicht weiter, obwohl sie sicherlich Anderssein, Unalltäglichkeit bemerkten. Fürchteten vielleicht, sie fielen durch dessen offenkundige Besonderheit aus eigenem Alltagstrott, müssten letztlich Fragen nach ihrem Selbstverständnis stellen und auch beantworten. Kurze Blicke verrieten es. Offenbar wollten sie dies vermeiden und nahmen daher einfach nichts zur Kenntnis. Aber was sie sollten auch tun? Ihn ansprechen? Weshalb? Sie wussten wahrscheinlich im tiefen Innern, ihnen entglitte nichts, außer dümmlichen Sätzen. Lediglich der eine oder andere besoffene Soldat aus der nahen Kaserne machte das vielleicht. Doch derzeit lungerte keiner hier herum.

Stumpf schwarz auf weißgrauem Papier bedruckte Tageszeitung in Händen, stand gebeugt wirkende Männergestalt beim Kiosk, sah kurz zum jüngeren Mann mit dem langen Fingernagel und sofort wieder beiseite. Angst, er werde dadurch in irgendeiner Weise angesteckt? Nun tat er so, als durchforsche er unterschiedliche Auslagen, lugte wiederholt verstohlen. Schon schien es fast, er wolle im nächsten Augenblick diesen auffallenden jüngeren Mann ansprechen. Doch dann verließ er eilig den Bahnhof.

Immer wieder drängte die Frage, was eigentlich mit jenem Fingernagel sei? Welche Bewandtnis hat es damit? Wieso ist dieser Fingernagel so, wie er ist und warum an diesem Menschen?

Eigentlich strahlte nur wenig wirklich Auffälliges von ihm ab, bestenfalls von seiner etwas anderen Kleidung. Anthrazitfarbenes Jackett, dünner dunkelblauer Rollkragenpullover, jedoch keine dieser unsäglich unförmigen Hosen, worin selbst wohlgestalte Sportler wie Witzfiguren wirkten. Einzig dessen schwarzes Schuhwerk fiel echt aus dem Rahmen. Anscheinend Stiefeletten. Vorn geradezu gefährlich spitz, saß jeweils eine mattschwarze Metallkappe auf.

Seine dunkelblonden Haare trug er recht kurz geschoren. Genau besehen, längerer Bürstenschnitt. Unbewegt, das helle, fremdartig wirkende aber ebenmäßige Gesicht. Kein Schönling. Hässlich jedoch auf keinen Fall. Graublaue, schon ins Grünliche gehende Augen schienen auf nichts Bestimmtes gerichtet. Ab und zu schaute er gelassen auf seine Armbanduhr, wartete offenbar auf jemanden. Etwa zwanzig Jahre mochte er zählen, vielleicht zwei bis drei Jahre mehr oder womöglich sogar weniger. Aber jünger als zwanzig eigentlich nicht.

Doch solches kann manchmal täuschen. Schließlich gibt es Leute, welche mit dreißig, wie zwanzig aussehen, mit vierzig, wie Anfang dreißig. Und andere sind vielleicht gerade mal über Mitte zwanzig, kommen aber wie typische Vierzigjährige daher. Erst wenn man ihnen genau ins Gesicht sah, erkannte man, sie konnten ihr scheinbares Alter noch nicht erreicht haben. Innerlich aber längst darüber, werden sie mit dreißig über fünfzig hinaus sein. Kein Zeichen von Reife, sondern Ausdruck von Abstumpfung und Verlust lang vergessener Träume. Teilweise oder gar vielfach reine Hohlköpfigkeit.

Auf jeden Fall wirkte jener auffallende Mensch trotz seiner Jugend alt, gegenüber einem von erst zwölf Lenzen. Für Zwölfjährige sind schon Achtzehnjährige alt. Allerdings wirkte er auch keineswegs wie ein alter Mann mit jungem Äußeren. Nein, es lag vornehmlich am Blickwinkel eines glücklich dem Stimmbruch entronnenen, welcher erst etwa fünfundzwanzigjährig feststellen wird, wie sehr verlaufe der Zeit Unterschiede schwinden. Es gibt dann selbst bei Altersabständen von fünf Jahren mehr oder weniger keine übermäßige Verschiedenheit. Schlichte Tatsache. Aber mit zwölf und dreizehn Jahren sieht es sehr anders aus.



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Mannie Manie © 1999
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