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Abermal, Kapitel 04, Seite 03

flackert


Von Nix kommt Nix! begriff er schon lange. So was konnten sie als gleichsam Flüchtlinge wirklich nicht vorweisen, mussten von bescheidener Hinterbliebenenversorgung und Mutters wenig fürstlicher Entlohnung für Putzfrauenarbeit leben. Seine erwachsenen Geschwister wohnten woanders, in anderen Städten, kamen nur ab und an nach Hause, benötigten für eigenen Lebensunterhalt und möblierte Zimmer gehörige Teile ihres Verdienstes. Und in ersten Jahren nach der Lehre bekommt man auch nicht die Welt in Lohntüten gepackt, erklärte Mutter Gundeleit einmal seufzend. Außerdem fand sie es nicht in Ordnung, den älteren Geschwistern mehr Geld abzapfen. Beide schon früh verlobt, wollten irgendwann heiraten, mussten ihr eigenes Aussteuerpolster erarbeiten. Von Zuhause konnten sie nichts erwarten. Stand felsenfest. Mitgift war Essig. Keine Änderung in Sicht.

Blöde Heiraterei! dachte Erfried schon damals kopfschüttelnd, sah nicht so ganz ein, wozu das denn gut sein sollte, wenn's nichts als einen Haufen Geld kostet? Aber laut wagte er die ihm einleuchtende Frage nicht noch einmal. Mutter zeigte dafür am wenigsten Verständnis und wies ihn ungewohnt barsch zurecht. Dabei konnte doch gerade sie am deutlichsten sehen, wie erschreckend häufig nichts außer Mühen und Sorgen damit einhergingen.

Wie oft erzählten sie und ihre zwei Busenfreundinnen beim Kaffeeklatsch, verschiedene Eheleute gingen einander nur noch entsetzlich auf den Sender, reichten schließlich die Scheidung ein, ohne Rücksicht auf Kind und Kegel und teure Trauung? Weil sie es einfach nicht mehr aushielten! Das kostete auch wieder riesigen Haufen Geld, Nerven und Tränen. Doch prompt machten solche Leute es ganz schnell gleich noch einmal, lernten nichts aus ihrem niederschmetternden Schiffbruch. Es war halt so, hatte so zu sein und niemand zweifelte diese dummen Zwangshandlungen an. Das gehörte sich nicht. Erfried fand aber, dieselbe Dummheit zweimal hintereinander oder noch öfter, gehöre sich noch weniger. Was können Erwachsene doch doof sein!

Geschmeidig kam Ingomar abermals schattenhaft hereingeglitten, grinste freundlich, erwartete wohl insgeheim, der Junge erschrecke wieder. Aber diesmal nicht. Erfried schaute ihm weitgehend gelassen entgegen. In seiner Linken hielt der leicht spöttisch und endlos überlegen wirkende junge Mann ein großes Glas mit rotem Sprudelgetränk. Jetzt fiel dem Jungen wieder deutlich der überlange Fingernagel an dessen kleinem Finger auf. Abgespreizt wie stechender Dorn, bohrte horniger Auswuchs in Düsternis.

"Warum setzt du dich nicht endlich hin? Hast du Angst, du könntest im Sofa oder in einem der Sesselpolster ertrinken?" Er lachte dabei wieder seltsam, stellte das volle Glas mit dem prickelnden Inhalt wie eine Anweisung auf den großen runden Tisch. "Na, setz' dich, Erfried", sagte er versöhnlich einladend. "Soviel gute Erziehung kann auch fehl am Platze sein. Du scheutest dich ja auch nicht, einfach im nächsten Haus vor dem Gewitter Schutz zu suchen."

"Ja schon. Aber das ist doch was anderes. Was hätt' ich denn sonst tun sollen?" antwortete er leicht verschüchtert, sank ganz nah der Sofalehne unerwartetes Stück weit ins Polster, blieb bescheiden und irgendwie beklommen so sitzen.

"Na ja, eben! Bei so einem Gewitter wie heute! Das ist ja auch dermaßen plötzlich losgegangen und mit einem solchen Paukenschlag, dass ich selber ganz schön zusammengefahren bin. Meine Güte! Und das in meinem Alter." Halb saß er jetzt auf der Tischkante dem Jungen gegenüber, knapp neben zischig sprudelndem Glas, überragte geradezu riesenhaft. Bald bedrohlich. Doch dies mochte gern nur am tobenden Unwetter und unwirklichen Eindrücken liegen.

Erfried griff das Glas und trank durstigen Schluck. Der Geschmack passte zur Farbe. Es schmeckte, wie rote Brause eben schmeckt: Künstlich nach Himbeeren! Bei hellem Tageslicht sah jenes gefärbte Getränk wässrig aber sehr rot aus. Hier machte es den Eindruck verdünnten Blutes, stark gezuckert, mit Himbeeraroma. Bei jetzig mattem Zwielicht, flackernd beglüht von zuckenden Blitzen: Dunkel, fast schwarz! Doch es prickelte angenehm im Mund und erfrischte in allgemeiner Schwüle. Als er das Glas abstellen wollte, spürte er seinen Durst erst richtig, trank es halb aus.

Obgleich er Ingomars Augen eigentlich nicht wirklich erkannte, glaubte er, sie seien unentwegt auf ihn gerichtet, schweiften keine Sekunde ab, durchbohrten geradezu. So scharf in Augenschein genommen, überkam erneut unbehagliches Gefühl. Stocksteif und aufrecht saß er, wagte nicht einmal Kopfwendung oder sein Gegenüber voll ansehen. Er fürchtete, dessen forschender Blick binde dadurch noch mehr, fessele oder banne auf die Stelle. Nie wieder käme er von diesem Sofa und dessen altersdunklem Leder herunter. Eindringlich roch der Bezug. Zwar nicht unangenehm, sondern eben nach altem Leder und verwendeten Pflegemitteln, bohnerwachsartig.

"Wohnst du hier in der Nähe, da in den Häusern ein paar hundert Meter weiter?" Wie einer der draußen unablässig umherjagenden Blitze prallte plötzlich gestellte Frage auf den Jungen, kratzte als Ausbund an Misstrauen im Raum, verlangte unweigerlich Antwort.

Erfried zuckte zusammen, suchte erst nach Worten, welche ihm einfach nicht einfallen wollten. Was sollte er sagen? - Was denn schon? Die Wahrheit natürlich! Über seine ursprünglichen Beweggründe brauchte er doch kein Wort verlieren. Und wenn Ingomar herausfand, dass er ihn vom Bahnhof aus verfolgte? - Wie sollte der das rausfinden? Der ist doch kein Gedankenleser! Aber... wer weiß? Ein reichlich seltsamer Mensch. - Erfried traute ihm alles mögliche zu, antwortete etwas zaghaft: "Nein, ich wohne in der Bachgasse am Marktplatz."



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