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Abermal, Kapitel 11, Seite 01

flackert


Kopflos stürmte er voran. - Noch halbe Strecke zum rettenden Tor aus Tageslicht!

Trotz aller verzweifelter Mühe, schrumpfte der Abstand kaum. Seine Füße klebten schier am Untergrund, schienen in krummen Pflastersteinen selbst einzusinken, zwanghaft angezogen von breiten Ritzen dazwischen. Laut wollte er um Hilfe schreien, brachte aber keinen Ton heraus, außer ersticktem Keuchen. Wind pfiff dennoch in taub brodelnden Ohren. Also musste er doch vorankommen. Dazwischen jaulten immer wieder Töne aus dem Leierkasten, schossen in die Mauerschlucht, hallten verwirrend an Wänden wider, zerbrachen schlagartig. In Zeitlupe kroch das Gassenende näher, sprang sogleich wieder ein Stück rückwärts, begann hämisches Spiel erneut.

Mitten im ausgreifenden Satz glitt sein rechter Fuß an hochkantigem Stein weg, knickte um. Er strauchelte. Die Schultasche rutschte aus den Händen, knallte aufs unebene Gassenpflaster, schlitterte über zwei Meter weiter mit dumpfem Laut gegen einen Mauerfuß. Gerade noch fing er einhändig den Sturz ab, fiel wenigstens nicht ganz hin. Schmutz klebte und stechender Schmerz meldete, etwas sei spitz in die Handkante gedrungen.

Rasch sah er hin. - Ein Glassplitter! Dünn pfeifend fuhr Leierkastenton ins Ohr. Glücklicherweise saß das glitzernde Stück nicht tief. Er riss es kurzerhand heraus, machte zwei angstvolle Sprünge zur liegengebliebenen Tasche, grapschte sie gehetzt, rannte sofort weiter. Wertvolle Zeit verloren. Deutlich spürte er den Dieb des Glanzes von hinten nähern, sah nicht hin, wagte es nicht, als könne er ihn damit hindern. - Er darf mich nicht einholen!

Endlich rettender Sprung auf breiten Gehsteig belebter Einkaufsstraße. Autohupe gellte. Mehrmals stießen ihn vorbeieilende Leute an, vor denen er überraschend auftauchte. Sie schimpften, aber er verstand nichts, nahm alles nur aus weiter Ferne wahr. - Ich muss hier weg!

Kurzer Rundblick erwies Irrtum. Er stand auf der Idiotenrennbahn, nicht beim Rathaus und Eingang zur Stadtbücherei. - Verschluckte die Finsternis jetzt schon Gassen, fraß ganze Straßenzüge samt Häusern? Was gaukelte vor, soeben durchflüchtete Angstgasse führe an andere Stelle? Oder verwirrten geglaubte dunkle Schneisen aus dem Hof hinter dem Holztor klaren Blick und verlässliches Hören?

Noch immer außer Atem eilte er zur Einmündung der kleineren Ladenstraße, blickte zurück, wartete ab, wer nach ihm enge Gasse verließe. - Bange Zeit lang geschah nichts. Dann trat hochragend dunkle Person heraus, blieb ruckartig im deckenden Schatten stehen. Erfried duckte in einen Ladeneingang. - Der Dieb des Glanzes darf mich nicht sehen!

Mit einem Auge sah er die Gestalt in Gegenrichtung der Idiotenrennbahn folgen, atmete erleichtert auf, behielt seinen Feind aber im Blick, wagte zaghaften Schritt auf den Gehsteig zurück. - Sonnenlicht fiel auf große Schaufensterscheibe, blendete vollständig. In breitem Strom schnellte Widerschein heran, vernichtete voller Gewalt und Schärfe Einzelheiten. Nur flatternd huschende Flecken blieben. Alles verlor eigenen Umriss, zerstob im grellen Lichtsturm. Gänzlich darin eingeschlossen verschwand die Gestalt. Der Dieb des Glanzes tauchte im Gleißen unter.

Auch zusätzlicher Schritt aus dem Grellen behalf nichts. Er kniff beide Augen zu. Funken und Strahlen tobten bunt auf der Netzhaut. Rasch riss er seine Lider weit auseinander. - Nirgendwo jemand, der dem Räuber der Farben glich. Nur das Schaufenster spiegelte, blendete wenigstens nicht mehr so schlimm.

Abermals Glanz gemindert, gefressen. Sogar jene gewaltsame Elfenbrücke blinkte viel matter, teilweise aufgesogen, und das Schaufenster wirkte nicht mehr blank, sondern stumpf. Hutmodenladen log Harmlosigkeit vor. Auch die hastenden Leute büßten neuerlich Farbteile ein, berührt und bestohlen von unsichtbaren Krakenarmen des Räubers. Verschattete Augen schauten aus grauen Gesichtern, Häuser dunkelten. Selbst unverschämter Autolärm schien von schwerer Decke gedämpft. Weiteres Stück dichter darüber gebreitet, ließ sie aus keiner Quelle hellere Töne durch. Nur surrendes Rauschen blieb übrig, holperte ungenau.

Ein Zustand, den er unerträglich fand. Nicht neu für ihn, aber abscheulich hässlich, wollte stets darin aufschreien. Stickige Watte verstopfte Gedanken, erdrückte Fragen, verhinderte Antwort.

Weshalb fiel ausgerechnet ihm dieser Fremde auf? Warum folgte er in dessen Schlupfwinkel? Was erhoffte er dort? Wieso begegnete er ihm? Und warum sah nur er dessen Wirkungen? Welchen Zusammenhang besaß dies? - Was ist die Antwort darauf?

Seit etlicher Zeit kannte er diese schroffe Lage, lange bevor der Farbenräuber auftauchte. Stets irrte er darin heillos herum. Fragen brachen los, verlangten herrisch stimmige Entgegnung. Nicht gegeben, kam sie nur quälend aus ihm selbst, verworren. Oft stürzte es auf ihn, überfiel zu ungewollten Zeiten. Und jetzt fühlte er nachgerade schmerzhaftes Drängen. Es bohrte stumpf.

Beachte es einfach nicht! riet lockende Stimme von innen.

Es nicht beachten? - Erfried versuchte es.

Alles zerfloss im Hintergrund, nahm jede Klarheit fort, vernichtet sie - und stürmte sofort wieder zurück. Achtlos durch seine Welt gehen, gelang nicht mehr. Überall verlangten Fragen Auskunft. Als ob ein Fluch auf ihm lastete, ihn zwang, alles und jedes wahrzunehmen, den Bedeutungen nacheilen, sie greifen wollen. Auch vielfach erhascht. Aber die Lösung brachte meist Angst und Bestürzung, war selten beruhigend oder freundlich.

Warum kann ich nichts vorbeiziehen lassen, fragenlos weitergehen? Warum denke ich darüber nach, bekomme keine oder schreckliche Antwort? Wieso gelingt es nicht? Anderen gelingt es doch offensichtlich auch?

Und jetzt? - Jetzt musste er um sein Leben fürchten!

Nach dem Leben fragte er, wollte wissen was das ist, folgte dem rätselhaften Ingomar. Prompte Antwort: TOD! - Vielleicht nur falsche Frage? Und wenn er nach dem Tod fragte, kam dann LEBEN als Antwort?

Er schüttelte es ab. Nach dem Tod fragt man nicht, sagten alle möglichen Leute. Es sei ungehörig, unanständig.



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Mannie Manie © 1999
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