Die Köchin bemerkte ihn, sah verwundert hoch und dann aus vollen Backen lächelnd an. Eindeutige Vertreterin urgemütlich dicker Sorte Mensch mit Knubbelnase, denen man sofort zugetan. Auch dann, wenn man selbst eigentlich keine Dickleibigkeit mag. Ihre laute aber angenehme Stimme schwängerte anbrechende Kaffeezeit: "Wen haben wir denn da?"
Frau Kretz unterbrach ihr verzögerliches Mitsingen, schaute gleichfalls auf. "Das ist der junge Mann, der in der Bibliothek etwas nachsehen wollte."
"Guten Tag, die Damen", grüßte Erfried höflich.
Die dicke Köchin lachte laut auf. "Meine Güte, uns nennt man hier nur selten Damen. Der Junge ist ja ein richtiger Charmeur. Magst du eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen?"
"Vielen Dank, liebe Frau, aber dazu habe ich wohl keine Zeit, weil ich hier im Haus nicht eingeladen bin."
"Ich zeige gleich, wo's in die Bibliothek geht." Frau Kretz entzog riesigem Kaffeebecher raschen Schluck, stapfte näher.
"So eilig wird's doch wohl nicht sein", meinte die Köchin kopfschüttelnd.
"Na, meinetwegen ja auch nicht. Aber Frau von Preungen würde sich doch wundern, wie lange der gute Junge seine Hände wäscht." Frau Kretz machte bedauernde Geste, trat an Erfried vorbei in den Flur, winkte ihm. "Hier geht's lang!"
Diese niedrige Strecke umrandete offenbar gesamtes Erdgeschoss, weshalb die großen Fenster in der Empfangshalle derart ungewöhnlich hoch vom Boden Simse breiteten. Darunter lag umlaufender Gang für Dienstboten. Dergestalt nutzten sie herrschaftlichen Bodenbelag nicht ab, blieben unsichtbar und beleidigten kein adliges Auge.
Ob es hier auch richtige Geheimgänge gibt oder gar echte Kerker? überlegte Erfried, verwarf keimende Hoffnung aber sogleich. Solcher Vorhalt wäre bei verhältnismäßig klein bemessenem Stadtpalais weniger vernünftig. Dazugehörige Folterkammern erzeugen zu viel Unordnung und Krawall zwischen dicht gedrängt stehenden alten Fachwerkhäusern. Wohin mit den entstellten Leichen? - Nein, das gab es vielleicht im gräflichen Stammsitz der Dahlendorfs draußen auf dem Lande. Heißhungrige Hunde dürften dort gern als Resteverwerter gieren und Schenkelknochen vergraben. Er wusste jedoch, die alte Gräfin lebte fast nur hier in ihrem Stadthaus. Geheimgänge, Kerker oder Folterkammern fand sie vermutlich minder zauberhaft.
Zu schade! Eine grausame alte Gräfin geriete wirklich ungemein spannend, die fröhliche Zeit im Gewölbe vertreibt, belustigt Folter und anderer Kurzweil mit dem Kerkermeister. Und nach Vampir sah sie auch nicht aus, obgleich deren schwarze Umhänge beharrlich etwas an Fledermaus gemahnten. Außerdem herrschte augenscheinlich Mangel an malerisch unfrohen Spinnweben. - Man kann nicht alles haben. So ist die Welt und das Leben eben: Hart aber ungerecht!
Einzig Frau von Preungen. - In ihr vermutete Erfried Abgründe. Doch die wird sicher vorbildlich um ausgefeilte Verfahren bemüht sein, machte eher Eindruck harscher Frömmigkeit. Bestimmt beutelt sie arme Opfer hart mit unentwegten Gebeten über Jahre hinaus. Manch arme Seele fragt irgendwann, ob Daumenschrauben nicht angenehmer?
Kurz vor Winkelkehre des Gangs öffnete Frau Kretz eine schlichte Tür. Sie gelangten unter die Balustrade im Hintergrund des größeren Teils der Empfangshalle. - Zwielicht. Sichtsperrend riesige Treppe verdunkelte hier. Bogengang führte hindurch. Groß gewachsen blickte ein Bursche von vielleicht sechzehn Jahren gelangweilt entgegen. Erfried kannte ihn nicht. Nie gesehen. Hellbraunes Haar und geziert wirkende Gesichtszüge ragten augenfällig spannungslos überreichlichen Kopf höher.
"Das ist der junge Mann, der wegen der Bibliothek hier ist, junger Herr", erklärte Frau Kretz und machte stehenden Fußes kehrt.
'Junger Herr' nannte sie den, überlegte Erfried blitzschnell, also ist er wohl kein Hausangestellter. Einige flinke Augenblicke begutachteten sie einander abschätzend, dann machte Erfried den ersten Schritt. "Guten Tag! Mein Name ist Erfried Gundeleit. Ich hätte gern in der Bibliothek etwas über die Ronnburg und ihre Geschichte eingesehen."
Erstaunen im länglichen Gesicht des Gegenübers. Kaum merkliches Schütteln. "Ah, ja... guten Tag! Ich bin Aring von Dahlendorf. Wir werden mal schauen, ob wir in dieser Foliantengruft etwas auftreiben können. Komm bitte mit."
Kein Handschlag zur Begrüßung. Erfried folgte ihm durch den Bogengang zur anderen Treppenseite. Hier öffnete der gräfliche Spross kunstvoll geschnitzten Flügel doppelter, messingbeschlagener großer Tür, deutete kopfnickend einwärts.
Die Bibliothek! Im hinteren Teil des Palais ausgedehnt, leicht muffig, wie alle Büchereien. Einige Orientteppiche dämpften Kahlheit auf Hochglanz gebohnerten Parkettfußbodens, schufen angenehmes Gefühl. Auch hier sehr hohe Fenster. Verglast breite Doppeltür erlaubte Ausblicke in nicht übermäßig großen Parkgarten. Weit offen. Frei flutete Sonnenlicht herein.
Sonst alles voller alter Büchergestelle. Gewaltige Holzbauten. Aufwendige Schnitzereien daran. In reichlich zwei Metern Höhe rankte begehbare zweite Ebene mit Geländer an Regalen. Links und rechts der Bibliothekstür führten schmiedeeiserne Wendeltreppen schmal hinauf. Die Mitte des beeindruckenden Raumes füllten fünf schwere Ledersessel, dunkelbraun bezogen. Ablagetische standen daneben und jeweils Leselampen. Ferner vorhanden, gewaltiger runder Tisch samt etlichen Stühlen und barocker Sekretär seitlich an der Wand. Wahrhafter Schrank!
Lauter antike Möbelstücke, kostbar gearbeitet. Sie wirkten zwar nicht richtig protzig, zeigten jedoch sehr nachdrücklichen Besitzerstolz. Die Grafen von Dahlendorf mussten alles andere als arm sein. Allein klotzender Sekretär dürfte beträchtlichen Wert darstellen, pendelte eher im Bereich Hunderttausend. Von riesenhafter alter Standuhr ganz zu schweigen, deren behäbiges Ticken und Tacken zwischen zwei Fenstern her durch den Raum klang.