Kein huschender Schattenriss suchte sogleich wieder das Hausinnere auf. Sie kannten deswegen keine Eile. Im verwirrend liegenden Garten sah sie kein fremdes Auge, hörte sie kein unberufenes Ohr. Genauso gut konnten sie davongeschwebt oder mit verwilderten Gewächsen verschmolzen sein. Nur wer über besonders scharfe Sinne verfügte oder wusste, was hier heimlich streunte, bemerkte verstohlene Schemen im Dunkel.
Bei der Hecke hinderten ausladende Baumkronen sehnsüchtigen Blick zu den Sternen. Nur da und dort blinzelte kurz einer von unzähligen Himmelsfunken. Weiterhin gefangen im alpdrückenden Wachtraum, gelangen nur mühselig lahme Bewegungen. Müde und mutlos. Gliedmaßen zogen haftende Fäden, klebten selbst an Luft fest. Im großen Garten verschwanden letzte Gestalten rasch zwischen Büschen und Bäumen. Unwillkürlich blieb Erfried stehen. Wenigstens diese Möglichkeit. Er musste fremdem Willen nicht unbedingt und jederzeit gehorchen.
Wie spät mag es sein? Bestimmt weit nach der Geisterstunde. Wahrscheinlich schon erheblich über zwei Uhr nachts hinaus. Was für eine überflüssige Frage! Es kann dir doch völlig egal sein, wie spät es ist!
Gab es denn überhaupt noch Zeit für ihn? - Wahrscheinlich jede Menge Zeit, während derer ihn sein Alp genüsslich quälen konnte. Verwundert bemerkte Erfried fehlendes Klammern am Arm, welches bisher unnachgiebig lenkte.
Ist der Alp verschwunden, ist Gundram gleichfalls in Büsche abgetaucht? - Kalt glitzernde Augen! Nein, er stand neben ihm.
Wieder legte Gundram besitzergreifend schwer den Arm um Erfrieds Schultern, führte ihn weg zur vollständig dunkel liegenden Rückfront des Perchtenhauses. Kein Wort fiel, kein Laut drang ins Ohr. Die Tiere der Nacht verhielten ihre Stimmen, mochten nicht verraten, wo sie gerade Deckung suchten.
Sind sie schon vor Stunden geflohen? - Dann sind sie glücklich!
Wie gern wäre er jetzt lieber ein friedlich schlafender Vogel im Nest auf einer Astgabel? Wie gerne eine zirpende Grille in Baumkronen, flatternder Nachfalter, krabbelnder Käfer? Selbst Leben als Regenwurm in Erdfeuchte schien erstrebenswert. So ein Wurm ahnt nicht, was ihm bevorsteht, lebt nur dahin, folgt seiner Bestimmung.
Ist dies meine Bestimmung? Dieser Alptraum? - Warum ausgerechnet ich?
Aber das fragt man wohl immer, wenn Schreckliches trifft. Bange Fragen brachen ab. Sie erreichten eine Tür. Hintertür? Einzige Hintertür wirrer Albenbehausung? Wahrscheinlich nur einzig sichtbare. Bestimmt gab es noch andere, verborgene.
Dunstig und trübe fiel geringer Lampenschein durch verglaste Aussparung im Oberteil. Erzeugtes Zwielicht erhellte nichts. Gundram fischte etwas aus seiner Hosentasche, fingerte anschließend am Schloss. Metallisches Geräusch. Offenbar drehte er einen Schlüssel, zog ihn wieder ab, öffnete. Ärgerlich quietschte das Türblatt, gab aber bereitwillig den Weg frei. Weitere Falle erwartete Fang.
Obgleich im Gang gedämpftes Licht herrschte, eigentlich bloß schwaches Funzeln, blendete es Erfried nach aller Nachtdunkelheit. Er zwinkerte, konnte zuerst fast nichts erkennen. Dann erschienen nach und nach Einzelheiten. Der hintere Flur!
Die Badezimmertür stand offen. Klaffende Lichtlosigkeit. Da drin fing alles an! Auch hinter anderen Türen brannte offenbar keine Lampe oder nur stark abgedunkelt. Wieder machte Erfried, was er aus eigenem Willen noch tun konnte. Er blieb einfach im Türrahmen stehen.
"Was ist los?" zischte Gundram. "Willst du jetzt hier stehen bleiben für den Rest der Nacht? Hier bleiben wir nicht, mein Freund. Die Nacht ist noch lang." Er schubste ihn vorwärts, lachte dabei unterdrückt, schloss die Tür und verriegelte sie. "Steh' doch nicht rum wie ein Osterei!" herrschte er Erfried an. "Los! Auf ins Badezimmer!"
Wenig zartfühlend wurde Erfried zielgerichtet vorwärts geschoben, durch offenstehende Badezimmertür fast geschleift. Irgendetwas klickte leise, dann spendete winzige Glühlampe mageres Licht, welches mehr verbarg, als zeigte. Lichtscheu im gesamten Haus. Der Alp schaltete weder Leuchten über den Waschbecken, noch das große Oberlicht an. Dunkelalb wie alle anderen, liebte er Zwielicht, mochte aber offensichtlich Wasser. Jedenfalls drehte er einen Wasserhahn auf, zog sein Oberhemd aus und begann prustend ausgiebig nasse Reinigung. Unschlüssig stand Erfried daneben. Vollkommen benebelt und ohne eigenen Antrieb bestaunte er beklemmend alltägliche Verrichtungen des Alps, verstand nicht, was dies hier werden sollte.
Gundram bemerkte dessen verschleierten Blick, hob sein nasses Gesicht, zeigte wieder fürchterliches Grinsen. Er griff nach einem Waschlappen am Haken beim Porzellanbecken, tränkte ihn voll Wasser und klatschte Erfried tropfendes Tuchstück ins Gesicht, lachte. "Aufwachen, du Schlafmütze! Pennen kannst du nachher noch lange genug. Jetzt wasch' dich wenigstens etwas. Du willst doch wohl nicht mit dreckigen Händen und verklebtem Gesicht ins Bett, oder?"