Irgendetwas bannte an diesem Fingernagel, gut und gern bis drei Zentimeter überlang, sorgfältig gepflegt und weitgehend gerade von vorn. Erstaunlich eigentlich! Er ragte fast stets nach oben, zeigte seitlich besehen leichte Biegung. Bald Kralle großen Raubtiers. Tigerkralle? Auf jeden Fall Katzenkrallen ähnlich und hell. Katzenkrallen sind auch oft hell. Umsichtig gehegt, stand er für etwas Besonderes, für Geheimnis. Ein Geheimnis, das es zu ergründen galt.
Sollte es wirklich ergründet werden? - Schließlich sind ergründete Geheimnisse keine Geheimnisse mehr und haben, wenn man sie dann kennt, lockenden Zauber längst verloren. Aber daran denkt man mit zwölf Jahren nicht, fiebert in zäh fließender Zeit ungeduldig seinem dreizehnten Geburtstag innerhalb nächster Monate entgegen. Lang vor einem ausgedehnt. Doch weiß man in diesem Alter bereits sehr genau, Geheimnisse können durchaus Gefahren bergen.
Allerdings liebte man doch Abenteuer. Vergeblich echt gesucht in Nachmittagsvorstellungen zweier muffiger Kinos, an beiden Enden des Geschäftszentrums der kleinen Stadt gelegen. Fechtfilme und Indianerkriege! In wirklich heiße Streifen durfte man noch lange nicht hinein, was fast verzweifelt aufreizte, älter auszusehen als tatsächlich. Nur selten überzeugend machbar. Davon ließen sich die meist schrecklich misstrauischen Kartenverkäuferinnen nicht täuschen. - Mist!
Mit lautem Getöse rumpelte ein Zug in Bahnsteig eins, gezogen von roter Diesellok, deren machtvolles Triebwerk durchdringend dröhnte und röhrte. Eine V200! Es gab hier sowieso nur zwei Bahnsteige. Scharf und schrill quietschten Bremsen, kreischten wie um Hilfe flehende Ungeheuer.
Nachdem die Eisenbahn stand, stahlen deren Wagen gehörige Mengen Licht, das zuvor noch durch breite Scheiben von der Bahnsteigseite hereinfiel. Hastig geöffnete Waggontüren entließen rascher Folge unterschiedliche Leute aus ihren Mäulern, spieen sie heraus. Unverdauliche Reste geraubter Fleischnahrung. Der jüngere Mann mit dem langen Fingernagel straffte seine Länge, sah jede hereindrängende Person forschend an.
Unbedingt notwendig. Erst wenn jemand vollständig in die kleine Halle kam, konnte dessen Gesicht sicher erkannt werden. Zuvor nur grob zwischen Geschlechtern unterschieden, falls mit Rock oder Hose bekleidet. Irgendwie wirkten dennoch alle gleich. Nichtssagend müde Gesichter, von Arbeit gezeichnet am Ende dieses Tages. Auch wenige launig gewechselte Worte änderten am grauen Einerlei nichts. Dann verebbte der Strom farbloser Leute. Nur ein einsamer Nachzügler tappte unsicher über Hallenfliesen und verschwand auf den Bahnhofsvorplatz. Hatte wohl zuviel Bier getrunken.
Der auffallende jüngere Mann schien enttäuscht. Offenbar kam die von ihm erwartete Person nicht mit diesem Zug. Kurz blickte er zur Uhr, zuckte leicht, fast unmerklich seine Schultern, ging zum ausgehängten Fahrplan der Ankunftszüge und durchforschte ihn aufmerksam. Aber dort schien wohl nicht genügend Wissen ablesbar.
Mit federnden Schritten erreichte er nächstliegenden Fahrkartenschalter, wechselte vor langgezogener Sprechluke in dicker Glasscheibe einige fragende Worte mit dem Bahnbediensteten dahinter. Bekam kurze Auskunft. Er nickte dankend und verließ zügig die kleine Halle durch eine Schwingtür zum Bahnhofsvorplatz. Zuvor streifte sein Blick noch ganz knapp den gebannt beobachtenden Zwölfjährigen.
Dieser richtete sofort die Augen auf anderes, als habe er Verweis wegen ungebührlicher Neugier erhalten. Nach kurzem Zögern folgte er jenem seltsamen Menschen, den er vorher niemals in der kleinen Stadt sah und der so erstaunlich fremd wirkte. - Zwei schrille Pfiffe im Hintergrund! Das Dieselloktriebwerk brüllte auf, unzählige eiserne Räder polterten über Schienen, rollten ratternd zum nächsten Fahrziel.
Könnte dieser jüngere Mann mit dem langen Fingernagel Zigeuner sein? - Kaum! Soviel verstand auch der Junge längst, konnte meist gut einordnen. Zigeuner brauchten nicht unbedingt wie aus Bilderbüchern entsprungen aussehen. Nicht, wenn sie vom Stamm der Roma oder Sinti, welche schon länger in Mitteleuropa lebten. Nur ost- oder südeuropäische Zigeuner sahen meist so aus, gehörten aber auch schon anderen Stämmen an. Nein, das ist mit Sicherheit kein Zigeuner! stellte er fest und eilte hinterher, wollte den Fremden nicht verlieren.
Auf dem Vorplatz musste er erst suchen, dann entdeckte er ihn. In zügigen Schritten voller Spannkraft wollte der jüngere Mann zur langen Geschäftsstraße. Dessen alltägliche Gangart? Eile lag nicht darin. Rasch folgte er nach, bedacht auf genügenden Abstand. Er wollte nicht entdeckt werden und den Fremden auch nicht verärgern, sondern mehr über ihn erfahren. Auf offensichtliche Weise ginge das kaum.
Was sollte er fragen? Einfach ungebremstem Wissensdurst freien Lauf lassen? - Unmöglich! Unverständnis und Unfreundlichkeit kämen als Antwort. Wer mag schon gern beobachten werden und neugierig ausgefragt, obendrein von einem altersmäßig fast noch Dreikäsehoch? - Ob der mir eine knallt?
Das wohl weniger, entschied der Junge. Schon gar nicht, wenn er auf Abstand bliebe und so tat, als habe er ganz zufällig genau denselben Weg durchs kleine Geschäftszentrum. Vorerst durchaus wahrscheinlich. Sie liefen zwischen vielen anderen Fußgängern auf der sogenannten Idiotenrennbahn.