Über Frau Zeisigs Gesicht huschte ein Schatten, verschwand aber sofort wieder und machte gewohnt verbindlicher Miene Platz. Dennoch sah sie ihren jungen Kunden plötzlich anders an, forschender.
"Nun... ja...", begann sie gedehnt. "Insofern, dass du dir ein wissenschaftliches Werk diesen Ausmaßes sicherlich kaum von deinem Taschengeld leisten kannst, hast du freilich sehr recht. Leider werde ich dir heute auch nicht weiterhelfen können, weil ich einen solchen Band erst zur Ansicht bestellen müsste. Vor Mitte nächster Woche ist der wohl noch nicht hier. Dazu kommt, archäologische Abhandlungen über die Ronnburg erschienen nur in sehr geringer Auflage, sind mit größter Wahrscheinlichkeit also längst vergriffen."
"Was heißt 'vergriffen', Frau Zeisig?"
"Ach so", sie lachte leise. "Das kannst du natürlich nicht so wissen. Das ist ein Buchhändlerausdruck. Das bedeutet, dass ein Buch nicht mehr lieferbar ist."
"Sie meinen, so was kann man gar nicht mehr bekommen?" Erfried klang sehr enttäuscht.
"Im Handel, kaum noch. Das wäre ein großer Zufall, daher nicht sehr wahrscheinlich, junger Mann. In der Stadtbücherei ist aber sicher etwas über die Ronnburg zu finden. Das weiß ich genau. Würde mich wundern, wenn dieser eine Wissenschaftswälzer nicht mehr da sein sollte."
"Da habe ich Pech! Die Stadtbücherei war nur den Vormittag heute geöffnet. Jetzt ist sie zu. Schade! Jedenfalls vielen Dank, Frau Zeisig!" Unüberhörbare Enttäuschung.
"Es gäbe noch eine Möglichkeit." Frau Zeisigs Gesichtsausdruck wirkte seltsam unbestimmbar.
"Ja? Welche denn?" Erfried war wieder ganz aufgeweckt.
"Das Grafenhaus derer von Dahlendorf besitzt eine sehr umfangreiche und sehr alte Bibliothek. Vielleicht solltest du einmal vorsprechen und deinen Wunsch vortragen. Ich kann mir vorstellen, die Gräfin Dahlendorf ist bei einer so besonderen Angelegenheit nicht abgeneigt. Schließlich willst du ja keinen beliebigen Roman einsehen, sondern etwas über die Geschichte unserer kleinen Stadt erfahren. Und wer wäre dafür geeigneter, als ein so altes Adelsgeschlecht, das seit vielen Jahrhunderten hier ansässig ist? Versuche mal dein Glück und sage dort getrost, ich habe dich dazu angestiftet." Sie lächelte fein.
"Das ist wirklich ganz lieb von ihnen, liebe Frau Zeisig. Vielen Dank auch!"
"Ach, nichts zu danken, junger Mann. Wissbegierige junge Leute sollte man immer zufrieden stellen. Du willst ja schließlich nichts Unanständiges." Ihr Lächeln nahm merkwürdigen Zug an. "Aber, wie kommst du ausgerechnet jetzt auf die Ronnburg, und warum gleich auf die ganze Umgebung davon? Für einen Jugendlichen deines Alters ist das nicht gerade alltäglich, deshalb frage ich so." Sie legte ihren von fast weißen Haaren umrahmten Kopf leicht schräg, blickte jetzt noch forschender als am Anfang. Verständnis heischende Handbewegung. "Du weißt wirklich gar nichts über die Ronnburg?"
"Nur das wenige, was man im Heimatkundeunterricht erzählt bekam. Mehr aber nicht." Erfried schüttelte den Kopf.
"Mhm!" ließ die alte Buchhändlerin hören. "Und was bewegte dich zu deiner Wissbegier?"
"Vor einigen Tagen war doch dieses scheußlich schwere Gewitter", erklärte Erfried. Frau Zeisig nickte. "Und da war ich gerade fast bei der Ronnburg. Ich bin in der Gegend dort herumspaziert. Das Gewitter ging so plötzlich los, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, als ins Haus bei der Ronnburg zu flüchten. Mich hätte ja auf der Anhöhe dort der Blitz treffen können, und es regnete ganz plötzlich wie wahnsinnig."
"Und hattest du auch das... ah... Glück, dass jemand zuhause war?"
"Ja, Frau Zeisig. Ein junger Mann namens Ingomar Perchten erlaubte mir, das Unwetter dort abzuwarten und lud mich auch ausdrücklich ein, wiederzukommen."
"Du bist eingeladen worden?" Eigenartiger Unterton in Frau Zeisigs Stimme.
"Ja, der Ingomar Perchten war sehr nett. Gestern war ich bei einem Schulfreund in der Siedlung dort bei. Danach machte ich noch einen kurzen Umweg zur Ronnburg, lernte auch Ingomars Mutter, die Frau Perchten kennen."
"Ach! Die Frau Nelda?" entfuhr der alten Buchhändlerin überrascht.
"Frau Nelda? Ich dachte... sie heiße Frau Perchten?" Er staunte, schaute verwirrt. Die wunderliche Namensnennung erinnerte ihn an das wirklich unangenehme Kennenlernen.