"Ja. Aber eigentlich nicht wir. Du hast eine Fähigkeit, derentwegen keiner von uns wirklich eine Wahl hat, wollen wir nicht zusammen das Spiel verlieren. Also spielen wir es doch mit Gefühlsbanden, mit Freundschaft und Liebe. Was gäbe es für uns alle besseres?"
"Pfff! Quatsch! Was für eine Fähigkeit sollte das denn sein?"
"Du kannst den Räuber der Farben sehen! Und allein kannst du ihm auf keinen Fall etwas entgegensetzen. Du brauchst Verbündete. Es ist nicht so, wie in den bunten Bilderheftchen, wo irgend so ein Superheld in komischen Klamotten hochdramatisch die Welt oder gleich das ganze Universum vor dem finstern Bösewicht errettet. Das ist alberner Kinderklamauk. Wir brauchen dich auch bei uns, wegen deiner Gabe."
Erfried sah ihn starr an. "Na gut", sagte er nach ungläubig nachdenklicher Weile. "Aber du sagtest doch, dass ihr ihn zumindest schattenhaft bemerkt. Und seine Auswirkungen müssen doch auch bis zu euch gedrungen sein. Wieso habt ihr nichts unternommen?"
"Wir haben es als solches nicht gleich eingeordnet. Wir wussten nur, es müsse irgendwann wieder soweit sein. Wie ich aber schon sagte: Niemand kann stets alles und niemand weiß immer alles! Wir leben unser Leben auch gern unbeschwert. Wer möchte das denn nicht? Man mag nicht dauernd auf der Hut sein, möchte lieber das Leben genießen, anstatt zu jeder Zeit und an jeder Ecke misstrauisch Ausschau halten. Und wir haben dann auch etwas unternommen. Das Feuerfest in den Wällen, welches dir ebenfalls soviel Angst einjagte, diente hauptsächlich dazu, einen Schutzbereich zu stärken und zugleich weiter ausdehnen. Aber es geht nicht mit einem Mal und überall hin. Der Räuber der Farben raubte Sonntag bereits wieder ein Opfer."
Schmerz fraß in junger Seele. Erfried sank kraftlos auf die Bank, blickte starr zu Boden. "Ein Opfer...", sagte er tonlos. "Meinen Freund hat er umgebracht."
"Deinen Freund? Soweit ich weiß, war der Tote in den Gebüschen der großen Grünanlage ein erwachsener Mann", wunderte Ingomar.
"Gerd Wesseling! Ringer und Ringertrainer! Ja natürlich war der erwachsen mit seinen sechsundvierzig Jahren! Er war aber trotzdem mein Freund! Ein ganz besonders guter sogar! Und jetzt ist er tot", fuhr Erfried den jungen Mann aufgebracht an. "Vorhin erst habe ich das erfahren. Ich wollte Gerd treffen und mit ihm reden. Aber er kam nicht in dem kleinen Bus mit, wie sonst immer. Ein Arbeitskollege von ihm hat mir dann gesagt, Gerd sei tot. Verdammtnochmal!"
"Meine Güte, Erf!" Sacht legte Ingomar dem Jungen mitfühlend eine Hand auf die Schulter. "Jetzt kann ich erst richtig verstehen, was du ausgestanden hast. Das tut mir wirklich leid!"
Bedrücktes Schweigen schlang. Rings um die kleine Grünanlage am Bahnhof brodelte lautstarker Verkehr, dröhnten Motoren. Wiederholt gellten Hupen, schwirrten Stimmen, tappten eilige Schuhsohlen knirschend über den Durchgangsweg. In regelmäßigen Zeitabständen reihten an nahen Ampeln Autos zu blechern gekerbten Schlangen. Motoren bollerten im Leerlauf, heulten oder brüllten grob auf, sobald das Licht auf Gelb und schließlich zu Grün sprang. Auf den anderen drei Bänken wechselten Ruhesuchende erstaunlich rasch. Ungeduld von allen Seiten. Rastlos huschten Menschen durch ihre Umgebung. Fliehende Umrisse.
Still saßen Erfried und Ingomar nebeneinander. Keiner sagte ein Wort. Was soll man zu Seelenwunden sagen? - Ich fühle mit dir? Es ist so schrecklich? - Plappernde Nutzlosigkeiten!
Schließlich brach Ingomar bedrückendes Schweigen sachte. "Soll ich dich nach Hause begleiten, Erf?"
Der Junge schüttelte nur den Kopf, blickte seinem Banknachbarn lange und forschend ins Gesicht. "Wer seid ihr wirklich, ihr Perchtens? Ihr seid nicht bloß eine sehr alte Sippe, sogar älter als die Grafen von Dahlendorf. Wahrscheinlich viel älter als die. Da ist doch noch etwas anderes."
"Wir sind die Wächter."
"Wächter? - Schöne Wächter seid ihr mir! Ziemlich schlafmützige Wächter, wenn du mich fragst. Vielleicht solltet ihr besser Nachtwächter werden."
Ingomar lächelte etwas gequält. "Nun sei doch nicht so streng, bitte. Keiner von uns konnte genau wissen, wann der Farbenräuber kommen wird. Es gab Anzeichen. Aber den genauen Zeitpunkt kennt man natürlich nicht. Der meldet sich doch nicht bei uns an oder macht sonst wie eine Ankündigung. Wir haben es nicht mit einem bösen Blödian zu tun, sondern mit einer uralten, sehr schlauen und klugen Macht."
"Und was sollt ihr bewachen, ihr Schlafmützen?"
"Wir bewachen das Tor."
"Was für ein Tor denn?"
"Das ist nicht ganz leicht erklärt, Erf. Aber kurz beschrieben: Es ist ein Tor in andere Ebenen! Wir bewachen es gegen Missbrauch. Der Lichtfresser würde sich freuen, wären wir nicht da. Da hätte er sehr leichtes Spiel."