Verstellung? Wollte er ihn in Sicherheit wiegen, fesselndes Netz werfen? - Auf unbestimmte Art fühlte er seitdem Gefangenschaft. Und Frau Nelda, Ingomars Mutter, die Frau des Hauses an der Ronnburg? Auch nur eine einzige Verstellung? Was könnte sie antreiben, glauben machen, sie wisse von nichts?
Am Waldrand sah Erfried über Wiesenfläche hinweg. Eigenwillige Füße anhalten, kostete Anstrengung. Entfernt ragten Bäume im weitläufigen Gartenpark und auf geheimnisvoll düster überwachsenen Wällen dahinter. Gleich riesig altem Tier lag die Ronnburg. Uraltes Tier, das schon lange ruhte und wartete, jetzt neue Gelegenheit kommen sah: Frische Beute! - Drachen aus fernen Sagenzeiten, zu Wällen erstarrt, in Erde getarnt?
In den Hecken konnte er das Gatter bereits erkennen. Anscheinend stand es wiederum halb offen. Aber beim gegebenen Abstand mochte es täuschen. Trotzdem merkwürdiger Eindruck, es sei für ihn halb aufgeschwungen und schlüge hinter ihm sperrig zu. Mausefalle! Hier und da lugten Teile heller getünchter Außenflächen des Hauses. Farbflecken zwischen Baumkronen und Gebüschen. Rasch wieder versteckt vom Laub, welches im leichten Wind flatterte und flimmerte, mitsamt Ästen hin und her schwankte. Sommersonne schien hell.
Als wolle es mich anlocken! - Wieder unbestimmbare Beklemmung. - Will ich das oder soll ich das? Muss ich es sogar? Bleibt überhaupt keine andere Möglichkeit?
Nicht zu entscheiden. Zaghaft verfolgte er vorbestimmten Weg. Warmer Wind wehte, zerrte an ihm, als wolle sogar die Natur fest bei der Hand greifen, keine Umkehr erlauben. Allerdings meinte er sicher, hier dränge die allgemeine Finsterung irgendwie geringer... Eigentlich gar nicht!
Wird Helle aus der Umgebung hierher gesogen? Müsste es dann nicht viel heller sein, sogar blendend grell? Müsste dann nicht rasiermesserartige Schärfe herrschen?
Ohnehin anders, blieb diese Finsterung oder Helle dem Auge verborgen. Man fühlt es nur, richtig sehen, gehe nicht. Das wusste er mittlerweile genau. Diese Finsterung hinterließ graue Seelen, freudlos im eigenen Selbst eingesperrt. Und dort schwinden sie, von schwarzer Säure oder Hitze verzehrt, bis auch die Augen nur noch schwarz sind. Holzkohle! Nicht einmal Asche übrig... Keine Asche...
Am Gattertor blieb er stehen. Abermals willentlich angehaltene Füße. Entfernung vom Waldrand bis hierher täuschte vorhin. Das Gattertor stand nicht halb offen. Geschlossen aber keineswegs, sondern angelehnt, kein Sperrholm eingeschoben. Locker hing zusätzlich kräftiges Vorhängeschloss in Kette gehakt herunter. Beides reichlich angerostet. Oberflächlicher Rost und sicher nicht alt, wie er rasch sah. Erfried schaute und lauschte in ausladenden Garten.
Geschäftige Stimmen einiger Vögel in Bäumen und Hecken. Hier und da flatterte Federgeselle, durchmaß seine Umgebung, kehrte wieder zum Nest zurück oder verschwand irgendwo zur Futtersuche. Sonst nichts. Kein Mensch. Kein Wort. - Ob niemand zu Hause ist?
Unsicher forschte Erfried nach anderen möglichen Anzeichen, entdeckte nirgendwo etwas.
Vielleicht sind alle hinter dem Haus im Kräuter- und Gemüsegarten? Das könnte er von hier aus nicht sehen und auch kaum hören. Bestimmt sind Perchtens nicht so liederlich und lassen ihr Gattertor unverschlossen, wenn sie wegfahren, machen es zumindest richtig zu, lehnen es nicht nur an. Sollte er einfach hineingehen, wie innerer Drang vorschreiben wollte? - Warum nicht? Schließlich bereits zweifach eingeladen und kein unerbetener Eindringling.
Bedächtig schob er das Gattertor auf, gerade so weit, bis er durchschlüpfen konnte. Wegkies knirschte unter Sohlen. Gezogen von einem Gewicht am Pfosten schwang es sofort wieder hinter ihm zu. - Das ist neu! staunte er.
Einfache aber wirkungsvolle Vorrichtung. Über zwei kleine Rollen führte glattes Seil und zog das Gatter wieder zurück. Vorher fiel es ihm entweder nicht auf oder der ungleich eirunde Gewichtsstein fehlte. - Vielleicht doch niemand hier und man vergaß nur die Torsperre?
Weder Stimmen, noch Bewegung im Haus. Jedenfalls hörte und sah er nichts, während er näher ging. Er folgte jetzt nicht mehr dem Kiesweg, sondern lief zwischen Gebüschen und Bäumen über Gras, sah jene sperrende Buschreihe, wohinter vor Tagen plötzlich und schreckend Frau Nelda samt Sonnenbrille auftauchte.
Unvermutetes Geräusch! Erfried wollte herumfahren... Bereits in begonnener Drehung zu spät! Umrissloser Gestaltschatten sprang von hinten. Heftiger Stoß im Rücken. Wie in Zeitlupe näherte Erdboden. Fremder Schwung warf Länge nach hin.
Dann sah er nichts mehr. Dunkelheit in Augen und modriger Geruch in der Nase. Schweres Etwas lastete, drückte unerbittlich nieder.