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Abermal, Kapitel 23, Seite 06

flackert


Hausaufgaben fertig, packte er die Schulsachen weg und sah zur leise tickenden kleinen Uhr beim Bett. Kurz vor drei! Für fast zwei Stunden Betrübnis entkommen. Doch sogleich würgte wieder ängstigende Gewissheit, strömte gleich giftiger Flüssigkeit heiß ins Gehirn.

Was mache ich nun? - Ich könnte zu Günter gehen, da wäre ich wenigstens weiterhin ausreichend abgelenkt und außerdem...

Gerd Wesseling fiel ihm erfreut ein. Er sah ihn fast eine Woche nicht mehr, dachte gar nicht an ihn. Und dabei durchaus ein richtiger Freund. Sicher, als Kranfahrer und Ringertrainer gehörte er nicht zu den hochgebildeten Leuten. Aber er besaß viel Herz und gesunden Verstand, und er mochte ihn sehr. Außerdem erwachsener Mann von Mitte vierzig, erfahren und stark. Wenn er ihm seine Lage schilderte, dann könnte er durchaus helfen, womöglich sagen, was er unternehmen könnte oder, wo sonst Hilfe greifbar.

Wenn er dich nicht für durchgedreht hält! höhnte warnende Stimme. - Egal, ich muss es probieren! - Mehr als milde belächeln kann Gerd Wesseling nicht, würde es wahrscheinlich auch gar nicht machen. Der nahm Schwierigkeiten und Ängste junger Leute durchaus ernst, das wusste Erfried. Kurz nach halb vier kam Gerd gewöhnlich samt Arbeitskollegen im kleinen Firmenbus am Bahnhof an. Noch genug Zeit. Heute leitet er auch kein Training oder trainiert selbst. Das macht Gerd normalerweise mittwochs.

Nachdem er alles aufräumte, ging der Junge nach draußen, schlenderte gemach über den Marktplatz zum Bahnhof. Neue Zuversicht stärkte. Die Kirchturmuhr verkündete halb vier. Am Himmel entstanden zunehmende Lücken in düsterer Wolkendecke, verrieten dunstig verschleiert, es gab auch anderes, außer fortschreitender Finsterung. Auch kein stetes Tröpfeln mehr aus Himmelshöhen. Leidlich getrocknetes Pflaster zeigte nur in tieferen Ritzen und Rinnen aufgesogene Regenfeuchte. Lediglich unter Bäumen weiterhin nass. Auf Blättern glänzten dicke Tropfen, platschten fade gleißend herunter, hinterließen dunklere Flecken an Auftreffstellen.

Am Bahnhof brauche er nicht sonderlich lange warten, hoffte er jedenfalls. Bislang verspätete der alte klapprige Firmenbus selten. Einzig zum Wochenende hin gab es Überstunden. Dann traf Gerd Wesseling allerdings erst zwei oder drei Stunden später ein. Sehr zu dessen Ärger, weil Gerd sonst längeren Feierabend lieber anders verbrachte. Am liebsten natürlich mit Ringen und allem drum herum.

Geschäftiges Treiben herrschte am Bahnhofsvorplatz und im Bahnhof selbst. Viele Menschen kamen und gingen, entstiegen Zügen oder ein, strebten ihrem Zuhause entgegen. Autos und Taxen in unregelmäßiger Folge. Auf der Zufahrtsstraße rauschte Verkehr. Abgase hinterließen teils faulen, teils scharfen Gestank. Erstaunlich, wie viele bereits Feierabend machten. Dafür mussten sie sicherlich sehr früh zur Arbeit, vermutete Erfried. Eilige Frau rempelte, warf raschen Seitenblick auf ihn und rauschte von dannen. Nicht einmal angedeutete Entschuldigung. In Erfried stieg Ärger.

Dumme Kuh! Wieso glauben ältere Leute, sie dürften gegenüber jüngeren jede Höflichkeit vermissen lassen? Woher sollen Junge richtiges Verhalten lernen, wenn nicht von Älteren? Und dann meckern die, wenn sich Junge gleichfalls einen Dreck ums Benehmen scheren. Die machen es ja überdeutlich vor, wie gut man auch mit miesem Benimm durchs Leben kommt.

Besonders Rentner bewiesen häufig schlechteste Manieren, glaubten offenbar, dies sei gottgegebenes Vorrecht im Alter. Selbst gegenüber eigenen Altersgenossen legten sie haarsträubende Rücksichtslosigkeit an den Tag. Genauso meinten nicht wenige 'moderne' Eltern, sie dürfen samt ihrer Brut zu jeder beliebigen Zeit hemmungslos Krawall machen. Finden es andere nicht in Ordnung, dann folgt neuerdings: "Hier spielen nur Kinder!" oder noch besser: "An den Kindern ist doch kein Knopf zum Abstellen dran!"

Na und? Faule Ausrede! Sollen sie doch endlich einen einbauen, schließlich sind sie nicht allein auf der Welt.

Ins Bahnhofsgebäude wagte er keinen Schritt. Zu sehr dürfte darin alles an Beginn misslichen Befindens erinnern. Wieder fiel ihm Ingomar ein, den er letzte Woche hier sah, ihm nachfolgte und Rattenschwanz beängstigender Ereignisse herausforderte. Wie Ewigkeit kam es ihm vor, dabei lag alles kaum eine Woche zurück, größter Schrecken sogar weniger.

Ingomar, Verräter! Was könnte noch alles passieren, betrat er diese Halle abermals? Wer stand heute da drin, fesselte Aufmerksamkeit und stürzte in ungeahnte Verwicklungen?

Er wollte es lieber nicht herausfinden, blieb neben Eingangsstufen stehen. Keinen Fuß setze er freiwillig in die kleine Bahnhofshalle, wollte er sie nicht eilig durchqueren und in einen Zug einsteigen, der ihn weit fortbrächte. Fort an Orte, von denen er nur träumen durfte.



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Mannie Manie © 1999
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