"Das trifft zu", bestätigte der ältere Herr bedächtig. "Ich kann mich an den nagenden Mangelwinter '44/'45 noch sehr gut erinnern. Selbst westalliierte Verantwortliche gestehen zu, die meisten KZ-Opfer starben einfach an Entkräftung. Von den SS-Schergen brauchten sie gar nicht umgebracht werden. Diese armen Lagerhäftlinge starben von selbst an Hunger, Seuchen oder anderen Krankheiten. Und das wie die Fliegen! Man ernährte zuvörderst für die Kriegführung wichtige Bevölkerungsteile hinlänglich und so gut es eben ging. Da zählten andere rein nichts. Das ist widerwärtige Rechnung wahnsinniger Kriege und Menschenverachtung."
"So völlig möchte ich das aber nicht mit dem Vietnamkrieg vergleichen", meinte Ingomar nachdenklich. "Mir scheint dort wirklich ein Befreiungsversuch der Einheimischen gegen eine fremde Macht und deren inländische Handlanger im Gange."
Ernst antwortete der Hagere: "Sicherlich spielt das eine sehr große oder auch entscheidende Rolle. Nur sollte nicht vergessen werden, dass dies auch ein ideologischer Krieg ist. Von beiden Seiten! Und nüchtern betrachtet, geht es einfach um die Wurst, um die Frage nach der Macht. Was sollte mich oder jemand anderen hier im Lande dazu bewegen, etwas unterstützen oder überhaupt gutheißen, wo am Ende doch mehr oder weniger nur die Machthaber wechseln oder bleiben? Das kann unsereinem doch schrecklich egal sein!
Sehr gut kann ich die jungen Männer in den USA verstehen, die nicht einsehen, warum sie in diesem blöden Vietnam ihre Knochen hinhalten sollen. Wofür denn auch? Ihre Lieben in der Heimat verteidigen sie nicht, auch wenn man ihnen das einreden will. Ich habe auch gar nichts dagegen, wenn man hier dagegen protestiert und Sturm läuft. Dieser brutale Schwachsinn muss aufhören!
Was ich aber sehe, ist, wie diese albernen Akademiker und Intellektuellen zu Narren, zu nützlichen Idioten für einen roten Imperialismus missraten, der uns mitten in Europa seine wirklich hässliche Fratze entgegenstreckt. Oder was ist das denn anderes, was da in dieser 'Zone', schwülstig DDR genannt, vonstatten geht? Und was läuft im ganzen Ostblock ab? Da ist doch überhaupt kein Unterschied in den Methoden. Im Gegenteil, finde ich sogar. Dann lieber das, was wir hier haben, als das da drüben. Das ist doch grauenhaft, wenn man ehrlich ist!
Und dann diese greulich geschmacklosen Aufmärsche mit Fahnen, Raketen, Kanonen und anderem militaristischen Stumpfsinn. Das kennt man doch aus der Nazi- und Stalinzeit. Wo zum Teufel ist der Unterschied zu den Naziaufmärschen beim Reichsparteitag? Und unablässig zetteln diese verbohrten Marxisten seit Jahrzehnten weltweit einen Krieg nach dem anderen an, nennen es dann verlogen Befreiungskrieg durch eine selbsternannte Befreiungsbewegung und deren 'Volksbefreiungsarmee'. Als ob das kein Krieg wäre! Einfach ekelhaft!"
"Befreiung oder Freiheit, oder gleich Liebe und so, hört sich immer sehr hübsch an, weil man sofort etwas Wunderbares, ein unbeschreiblich schönes Gefühl damit verbindet", lächelte der ältere Herr. "Aber damit hat es sich meist auch schon. Das kann man ganz unterschiedlich empfinden und beschreiben oder ausleben. Es kommt ja sehr wenig darauf an, wie man etwas benennt, sondern darauf, was es dann tatsächlich ist. Was nützt es denn, 'Arbeitslager' in 'Liebeslager' umzulügen, wenn die Bezeichnung der Wirklichkeit Hohn spricht?"
"Oder statt Müllhalde, Entsorgungspark sagt", lachte Ingomar und erntete ringsum Heiterkeit.
"Richtig, junger Freund!" bestätigte der ältere Herr. "Allein schon solche geschwollenen Bezeichnungen, wie Volksdemokratie oder Volksbefreiungsarmee oder demokratische Volksrepublik und dieser ganze andere aufgeblasene Unsinn in Worten. Man redet immer sehr viel über das, wovon am wenigsten vorhanden. Wer Durst hat, redet vom Trinken. Wer hungert, redet vom Essen. Und wer ständig von Freiheit oder Liebe posaunt, besitzt oder bietet davon nur wenig oder nichts."
"Mir fällt auf, in den Hitlerreden und auch in anderen Reden dieser Herrschaften, ist in unglaublicher Häufigkeit von Freiheit die Rede", warf jener ein, der nur zu Anfang einige Sätze sagte und dann schweigend zuhörte. Er schien vielleicht erst Anfang dreißig.
"Da kann man mal sehen!" lächelte der ältere Herr erneut. "Wohlfeile Aussprüche, die alles und nichts sagen, sind immer gern getan, weil billig. Unter Freiheit verstanden diese NS-Leute offenbar nur, dass sie machen könnten, was sie wollten. Aber daran krankten nicht nur diese."
"Mir hat man im Staatsbürgerkundeunterricht gesagt, die eigene Freiheit endet an der Freiheit der anderen", wagte Erfried zaghaften Einwurf.
"Das ist unbefangen gesehen eine schöne Ansicht", meinte der ältere Herr. "Du heißt Erfried, nicht wahr?" Erfried nickte. "Ich möchte dich jetzt nicht billig belehren. Aber in dieser Ansicht steckt ein Denkfehler, der fatale Folgen zeitigen kann."
"Oh, das habe ich noch nicht bemerkt", staunte Erfried.
"Das ist leider auch gar nicht so einfach, wenn man gutwillig anderen gleichfalls Gutwilligkeit zugesteht. In dieser Ansicht wird davon gesprochen, dass die Freiheit an anderer Freiheit endet."
Alle Rechte vorbehalten
Mannie Manie © 1999
Unentgeltliche Weitergabe erlaubt!
weiterblättern:

|