Hier drin spürte er das Alter des Hauses. Alter ruhenden Ortes in sonst rasender Welt. Aus endlos ferner Vergangenheit reichte es in diese Zeit. Zeit, welche auf unerklärbare Weise wiederum stillstand, nicht rücken und rühren mochte. Im Gegensatz dazu, wirkte gleichfalls alte und dabei sehr gediegene Einrichtung beinah jugendlich. - Für nicht absehbare Weile sein Zuhause?
Obgleich eigenes Zimmer in der Bachgasse hiergegen geradezu armselig, befiel ihn unsägliches Heimweh und lastende Wehmut. Gleichwohl alles kaum vier Kilometer entfert. Was verhältnismäßig geringe Wegstrecke bereits ausmachen konnte? dachte er traurig über rasch gekommenen Verlust letzter Reste seiner Kindeswelt. Unübersehbare Tatsachen, womit er keine Freundschaft schließen wollte. Aber es bliebe ihm nichts anderes übrig. - Endgültig! - Rückgängig konnte man es nicht mehr machen.
Was geht schon wirklich wieder rückgängig? Eigentlich gar nichts! Man kann eingetretene Umstände nur neu anpassen, sodass sie wenigstens äußerlich altem Zustand entsprachen. Aber das stimmte dann längst nicht mehr. Nichts bleibt, wie es ist! Alles Täuschung! Man wollte Veränderungen nicht wahrhaben, klammerte vergebens an vertraute Dinge, Menschen oder Verläufe, bei denen Zeitfluss, unausbleibliche Wandlung einem weniger auffiel.
Wenigstens vor dem schwarz schleichenden Feind sicher! Reinhild und Mama sind ohne meine Gegenwart viel weniger gefährdet!
Erfried empfand unbestimmte Verlorenheit, denn viel änderte dieses Wissen nicht, gab ihm nur schwach beruhigendes Gefühl. Es tröstete aber hinreichend. Immerhin wohnte er jetzt in schier herrschaftlichem Haus, dessen Bewohner seit Alters keine sonderlichen Geldsorgen kannten. Hier herrschten andere Sorgen. Zum ersten Male fiel ihm auch auf, geldliche Unpässlichkeiten seien tatsächlich nicht alles, noch nicht einmal wirklich schlimm. Hier mussten Leute zu Selbstopfern bereit sein für anderer Zeitgenossen Sicherheit vor rachsüchtigen Altmächten.
Was ist schlimmer, Geldsorgen oder dies? - Er fühlte nur dumpf, Familie Gundeleits magere Haushaltskasse wäre ihm derzeit wesentlich lieber. Vielleicht sieht es später anders aus. Aber an später mochte er jetzt nicht denken. Wer konnte sagen, wie Geschehnisse letztlich verlaufen?
Gedankenverloren stand er neben einem Sessel, starrte aus dem rechts gelegenen der beiden hohen Fenster nach draußen. Plötzlich gewahrte er wirklich schönen Ausblick, während Wehmut zuerst gar nicht bemerkt. Leise seufzend sank Erfried ins Sesselpolster. Überaus bequemes Sitzmöbel, zumindest dieses. Von hier aus konnte er über bergige Landschaft sehen.
Keine Häuser oder deren Dächer. Baumkronen, Wälder und Hügel, bläulich schimmernde Bergzüge in der Ferne, überzogen von dunklem Wald. Darauf sank Sonne zur kommenden Nacht nieder, zauberte elfenhafte Ungenauigkeit verschwenderisch in eine Welt, bald in Sommernacht entlassen.
In dieses Bild tauchte er, hielt nichts fest, ließ Gedanken kommen und gehen. Gleich flatterhaftem Reigen zogen sie vorbei. Wollte er einen davon halten, näher betrachten, dann stürzten womöglich bedrückende Fragen auf ihn, nagten und fraßen, ließen keine Ruhe. Aber so, nahm er mählich blaue Stunden auf, ließ seine Seele baumeln, den Blick ruhig schweifen. Irgendwo verweilte dann alles, während am Himmelsrand Abend grüßte.
Übermäßig lange saß er nicht, obgleich es ihm sehr lang vorkam. Aber Zeit, gemessen in Stunden und Minuten auf Uhrzifferblättern, spielte und spielt geringere Rolle, als rastlose Geister gern glauben machen. Zurückhaltend klopfte jemand. Ahnte der Eintritt wünschende, mögliches Ungestüm störe jetzt? Erfried wandte langsam halb herum, mochte aus seinem Märchen nicht auftauchen. "Ja bitte!"
Natürlich Gundram! Samt meist wirrem Schopf spähte er neugierig aber besonnen und unaufgeregt durch Türspalt. "Hej, darf ich mal reinkommen?"
"Wenn du mir kein Gespräch aufnötigen willst, gern."
"Will ich nicht", hauchte Gundram, schlüpfte herein, erkannte herrschende Stimmung sofort. Kurz sah er seinen jüngeren Gefährten an, glitt auf dick gepolsterte Seitenlehne des Sessels, folgte dessen Blick in gleiche Richtung aus dem Fenster. Er schwieg, nahm diesen Ruhezustand auf, verschmolz fast übergangslos damit.
Wortlos nebeneinander. Erfried tiefer im Sessel selbst und Gundram wie schützender Schatten links, rechten Schenkel auf der Polsterlehne. Gemeinsam wanderten ihre Sinne durch beidseitig offene Fenster ins abendlich gewordene Land. Fernab und zugleich ganz nah sank die Sonne bereits hinter entlegene Höhenzüge, teilte zum Abschied des Tages schwarz-rot-goldenes Lichtwerk über Himmel und Hügel aus.
Zusammen zogen sie über stetig dunkler gewandelte Baumwipfel davon, während letzte Sonnenstrahlen wundersame Elfenbrücken im mählich aufsteigenden Dunst beschworen. Vogelstimmen sandten verschiedentlich Abendgrüße durch nach wie vor warme Luft. Irgendwo hoch oben zog brummendes Flugzeug streifige Bahnen, tief tönend hörbar, verebbte in Weite. Silberner Gesang schwang aus der Landschaft. Wehendes Band, das leichthin diese Welt samt beiden Schweigenden verflocht. - Elfenklang.