Erfried wählte seinen Weg absichtlich durch weniger belebte Straßen, genoss den wirklich schön gewordenen Frühsommertag. Dessen laue Luft ließ das gewaltige Gewitter vor Tagen und danach erlebten Schrecken in weite Fernen schwinden. Jetzt schien ihm dies sogar äußerst nebelhaft. - Ob er tatsächlich dem Dieb des Glanzes begegnete, den unheimlichen Hof betrat, wo ihn drohend schwarze Augen aufsaugen wollten?
Rasch verscheuchte er ängstigende Erinnerungen, tauchte voll ins Hier und Jetzt. Recht der Jungen und anderer unbekümmerter. Was in vergangenen Tagen an Ungewöhnlichem geschah, schrieb er kurzerhand seinem Wunsch nach Abenteuern zu. - Schlicht unglaublich, also geschah es nicht!
Wahlkampfzeit wühlte gerade. Von großen Plakatwänden drängelten mehr oder weniger bekannte Politikerköpfe mit aufgesetztem Lächeln in aller Augen. Albern nichtssagende Sprüche darunter. Man versprach alles und nichts. Offenbar wollten die dann in Amt und Würden gewählten diese hohlen Plattheiten sowieso nicht irgendwie ernst nehmen. Aber daran mochte man als Zwölfjähriger, oder fast dreizehn, ohnehin nicht denken. Alles so fremd und fern wie Sibirien oder Alaska.
Einen schönen Tag vermiesen lassen? Von denen? - Nein!
Er durchlief abgelegene schmale Straße, gesäumt von alten Bäumen und großen Wiesenflächen. Nächste Häuser der kleinen Stadt lagen zwei- oder dreihundert Meter entfernt. Nur sehr wenige Autos unterwegs. Hin und wieder kam jemand entgegen. Man ging aneinander vorbei, als sei der oder die jeweilige andere gar nicht vorhanden. Gemähtes Gras verbreitete kennzeichnenden Duft. Fast schon ländlich.
Fragen nach zunehmender Finsterung, erlaubte augenblickliche Gelöstheit nicht. Zwar schien Sonne, doch trotzdem bemerkte er flüchtig, alles sei erneut winziges Stückchen dunkler. Er beachtete es einfach nicht. Konnte ebenso gut von hoch oben zerzaust wandernden Schönwetterwolken herrühren.
Inständig hoffte er, dieser Prediger habe inzwischen bei Kaisers das Feld geräumt. Aus begreiflichen Gründen wollte er dem nicht gerne begegnen. Womöglich zerrte der ihn in irgendeine Gebetsmaßnahme. - Keine Lust dazu! - Ringelreihbeten in der evangelischen Jugendgruppe ging ihm schon genügend auf den Geist.
Besonders nervtötend, das laut vernehmliche und sehr nachdrückliche "Amen!" am Schluss jedes einzelnen Gebetsergusses, wozu der eine oder andere künftige Konfirmand Harndrang fühlte. Meist begann es immer mit: "Lieber Herr Jesus! Ich habe eine große Bitte an dich: Blah blah blah blah..." Seltener sprach jemand die Bitte, ein geliebter Mensch möge von Leiden erlöst werden. Das verstand er sehr gut, fand es nicht fehl am Platze und bat reinen Herzens auch dafür. Dummerweise folgte aber fast stets irgendeine ausnehmend peinlich gefühlig kindische Bitte an himmlischen Angesprochenen.
Ob den solch nichtiger Quark wirklich interessierte? - Erfried bezweifelte es tunlichst, sah im Geiste Herrn Jesus zu Tode gelangweilt im siebthimmlischen Ohrensessel zurücksinken, hörte ihn gequält verdrehter Augen laut aufstöhnen bei dem ganzen Gesäusel. Selbst die Dornenkrone und anschließende Geißelung durch diesen widerlichen Römer dürften weit weniger Pein verursacht haben. Womöglich meinte Herr Jesus völlig entnervt sogar, er wolle lieber abermals ans Kreuz genagelt schmachten, was immerhin nach einigen schmerzhaften Stunden der Qual endlich sein Ende fände.
Aber das dann, reihum sülzendes Beten, dieser grauenvolle Ausbund an Langeweile und tödlicher Geistesferne? Das fand nie ein Ende! Und es ginge auch bis in alle Ewigkeiten so weiter, glaubte man den Ausführungen des Religionslehrers und des Pastors. - Schrecklich! Der arme Herr Jesus!
Wie hieß der eigentlich mit Nachnamen? - Gott Vater jedenfalls, hieß in Wirklichkeit Jachweh, wie der Religionslehrer einmal erzählte. Und dieser Gottvater Jachweh schaltete seinen Sohn Jesus wohlweislich als Filter vor, damit der ganze Blähsinn nicht sofort auf seinem Schreibtisch in Wolke Sieben landete und ihm die gute Laune verdarb. Gute Laune blieb sowieso äußerst rar bei Familie Jachweh, las man aufmerksam im alten Testament. Ein äußerst übellauniger Zeitgenosse, der Gott Israels.
Erfried fragte seit einiger Zeit immer wieder mal still zweifelnd, was er eigentlich mit einem morgenländischen Wüstengott zu schaffen habe? In der Bibel stand doch unmissverständlich, das sei der Gott Israels. Und er selbst doch ganz sicher kein Jude, nicht einmal Semit, wie die Araber wenigstens. Auf seine Frage antwortete der Pfarrer, es gebe nur einen Gott, und der sei für alle.
Das konnte aber nicht ganz stimmen, weil Jesus den Satan auch als Gott bezeichnete, zumindest als zusätzlichen: Den Gott dieser Welt! Also sah er in seinem Bruder Luzifer Satanas gleichfalls einen Gott, wie offensichtlich in sich auch. So stand es jedenfalls im Neuen Testament eindeutig drin. Demnach gab es schon drei Gottheiten.