"Ich weiß nichts davon, Frau Gundeleit", versicherte Günter.
"Wenn er tatsächlich dort hingegangen ist..." Frau Meinrad verstummte.
"Was wäre dann, Frau Meinrad?" Eleonore Gundeleits Unruhe wuchs. Vernommener seltsamer Tonfall erhöhte ihre Sorge. "Sind das keine anständigen Leute?"
"Das will ich damit nicht sagen, Frau Gundeleit", antwortete Frau Meinrad schnell. "Es ist nur sehr, sehr ungewöhnlich, weil diese Leute von der Ronnburg sich immer sehr zurückhalten, kaum mit jemandem von hier verkehren, obwohl sie eine der ältesten Familien in dieser Gegend sind. Eigentlich sogar die älteste Familie. Älter als die Grafen von Dahlendorf."
"Ach, wirklich? Aber darüber können sie mir gern ein andermal erzählen, liebe Frau Meinrad. Haben sie vielen Dank und entschuldigen sie bitte meinen späten Einbruch. Gute Nacht zusammen!"
"Ich bitte sie, Frau Gundeleit, sie haben nicht gestört. Unter anderen Umständen sind sie natürlich herzlich eingeladen, ins Haus zu kommen, auf einen Kaffee oder so."
Lieber nicht, dachte Eleonore Gundeleit. Deren Kaffee schmeckt bestimmt ganz ähnlich, wie ihre Behausung innen aussieht: Verschlampt und muffig! "Danke, das ist sehr freundlich von ihnen. Bei Gelegenheit werde ich sie sicher einmal mit meiner Anwesenheit belästigen. Aber jetzt..."
"Ach, Frau Gundeleit", fiel ihr Günter ins Wort. "An der Ronnburg haben die sicher Telefon. Vielleicht rufen sie dort einfach mal eben an."
"Das ist ein ganz ausgezeichneter Vorschlag, lieber Günter. Dankesehr! Dumm ist nur, dass die nächste Telefonzelle am Ende des Marktplatzes ist. Ich werde mir aber die Mühe machen müssen. Sie haben wohl auch kein Telefon hier, Frau Meinrad?"
"Bestellt, ja, Frau Gundeleit. Aber die Post lässt sich damit schon seit über einem halben Jahr Zeit, weil sie noch Leitungen verlegen müssen. Tut mir sehr leid, dass ich ihnen damit nicht helfen kann. Soll ich sie zur Telefonzelle begleiten, damit sie das nicht so allein tun müssen?"
"Sie sind sehr liebenswürdig, Frau Meinrad. Machen sie bitte meinetwegen keinen Umstand. Die Bachgasse liegt ja nicht weit von der Telefonzelle entfernt. Das schaffe ich ganz sicher allein. Auf Wiedersehen und ganz herzlichen Dank an sie alle! Und bitte nochmals Entschuldigung, wegen der späten Störung!" Eleonore Gundeleit strebte zum Gassenende, hörte Frau Meinrad noch etwas zu ihrem Sohn sagen. Es klang eindringlich. Sie verstand nichts. Dann fiel die Haustür ins Schloss.
Bevor ich bei wildfremden Leuten einfach anrufe, schaue ich noch mal Zuhause nach. Vielleicht ist Erfried inzwischen gekommen, überlegte sie, fürchtete gleichzeitig, ihr Wunsch werde nicht erfüllt.
Fast menschenleere Straßen. Nur wenige erleuchtete Fenster. Ein paar Autos brummten noch durch die Nacht, ließen abgeblendete Scheinwerfer über Pflastersteine streifen. Entfernt huschten Fußgänger vereinzelt durch matte Straßenlampenkegel, verschwanden in Häusern oder Seitengassen.
Nicht ganz so leblos, die Bachgasse. Mit laufendem Motor parkte großes Auto am anderen Ende beim Marktplatz. Zwei Personen stiegen ein, dann gab man auch schon Gas. Schnell rollte der Wagen davon, bog rechts ab. Rote Rücklichter tauchten weg. Lediglich Motorengeräusch bestätigte das Auto. Zurück blieben unangenehme Auspuffgase, faulig scharfer Brodem zwischen gedrängt stehenden alten Häusern. Fernab verstummte Motorbrummen.
Frau Gundeleit trat in den Hauseingang Bachgasse Nummer vier. Zettel leuchtete hell vor lichtlosem Hintergrund. Mit Klebefilm angeheftet, zuvor nicht aufgefallen oder übersehen. Einige Zeilen standen darauf. Unlesbar im Dunkel. Sie nahm ihn ab. Manche Leute glauben offenbar, Haustüren seien Plakatwände, wo man alles mögliche und unmögliche ankleben dürfe, dachte sie kopfschüttelnd, faltete aber das Stück Papier zusammen und behielt es in der Hand. Rasch schloss sie auf und stieg in ihre kleine Wohnung hoch.
Kein Anzeichen von Erfried! - Leise schaute sie noch einmal nach Reinhild. Regelmäßige Atemzüge bewiesen deren ruhigen Schlaf. Lediglich freigestrampelt. Sorgfältig zog sie die Decke über ihre kleine Tochter. Dann hielt es sie nicht mehr.
Ich gehe am besten gleich zur Polizei! Dort könnte man mir wenigstens sagen, ob jemand im Verlauf des Nachmittags oder Abends verunglückte, in ärztliche Behandlung oder gleich ins Krankenhaus kam.
Tief besorgt verließ sie Wohnung und Haus. Seltsam träge flirrte blassgelbes Laternenlicht. Rasch zum Marktplatz. Am anderen Ende leuchtete auffällig postgelbe Fernsprechzelle, beschienen vom hellen Kegel einer Bogenlampe darüber.
Vielleicht sollte ich doch erst Familie Perchten bei der Ronnburg anrufen? - Ja, das mach' ich, bevor ich die Polizisten so spät aufscheuche, beschloss sie und steuerte zum öffentlichen Fernsprecher. Auf halbem Weg über den Marktplatz sah sie große dunkle Gestalt in die gelbe Zelle schlüpfen. - Schade, jetzt ist mir jemand zuvor gekommen. Ärgerlich! Was soll's, dann gehe ich eben doch gleich zur Polizeiwache. Dort ist ja auch Telefon.
Die Wache lag nur wenige Häuser entfernt, gleichfalls am Marktplatz. Davor rauschte riesige alte Linde sacht im nächtlichen Wind. Unten fiel grelles Licht aus Amtsstubenfenstern. Innen weckte amtlich schäbige Umgebung Beklommenheit.