Nein, Gundram schien ein durchaus lieber Kerl, dem begangene Dummheiten unendlich leid taten und nun nicht wusste, wie er sie gutmachen sollte. Und wenn Erfried an jene Nacht in dessen Zimmer dachte... Unvoreingenommen gesehen: Die Wucht in Dosen! Gundram übertraf erstaunlich kunstreich alles, was er bis dahin kannte. Selbst mit einem Mädchen wäre es nicht besser gelaufen. Vielleicht sogar längst nicht so gut, weil Jungen selbst bestens wissen, worauf es bei ihnen ankommt. Erfried hörte schon einmal, Mädchen erginge es genauso.
"Du willst noch immer nicht mit mir reden?" seufzte Gundram ins Stille. "Ich kann dich nur um Entschuldigung bitten und dir sagen, dass es mir irrsinnig leid tut! Zuerst spielte ich eben ein doofes Machtspielchen, fand das ganz spaßig. Aber es sollte auch deshalb sein, damit du dich leichter zurechtfindest, wenn ich dir alles vorgebe. Danach wollte ich dir auch alles erklären. Aber während der Gesellschaft hier kam ich einfach nicht so recht dazu. Mal war dies, mal war das, dann unterhielt man sich mit dieser oder mit jenem. Oder die redeten auf dich ein, sodass ich nicht einfach dazwischenquasseln konnte, um dir was zu verklaren. Und dann war es auch schon Zeit für die Feuerfeier. Und da konnte ich schon gar nicht mehr lange was reden. Hinterher war ich einfach maulfaul, hatte den Eindruck, du seist es auch und obendrein müde, weswegen ich im Badezimmer, auf den Treppen und in meinem Zimmer dann auch nichts sagte. Ich dachte mir, es ginge auch am nächsten Tag noch. Tja, und dann sah ich dich da stehen... Da vergaß ich einfach alles! Am nächsten Vormittag wollte ich dich nicht aus dem Schlaf reißen, meinte eigentlich, dass ich dich noch anträfe, wenn ich wieder aus der Stadt zurück bin. Dann hätte ich dir bestimmt alles haarklein verhackstückt. - Aber leider warst du weg! Hinterher schwante mir dann, weshalb. Da war's zu spät für mich, dir noch was genau erklären, sagen, was wirklich abgelaufen war. Und dann war ich so blöd und traute mich nicht zu dir. Aber ich glaube, du hättest mir dann auch nicht mehr zugehört. - Es ist einfach doof gelaufen! Und es ist alles allein meine Schuld!"
Bedrückt verstummte er, setzte nach geplagter Weile hinzu: "Ich glaube, ich hab' dich einfach nur zu sehr gern." Lastende Wortferne herrschte länger. "Können wir trotzdem Freunde sein?" Gundram schaute verstohlen zu Erfried, der bewegungslos auf seiner Seite des Sofas saß und schräg herüberblickte.
Wattig drang Erinnerung bei Erfried durch: Stimmt! Gundram wollte den ganzen Abend über etwas erklären, kam aber nie über den ersten Satz hinaus! - Nachdem er glaubte, sein Widerpart habe lange genug in zäher Trübsal gezappelt, sagte er schließlich: "Es ist gut, Gundram!"
Erfried schwieg wieder, sah Gundram scharf und durchdringend an, genoss rachsüchtig dessen sichtbares Unwohlsein, spielte seinerseits Macht aus, welche er zweifellos auf eigene Weise besaß. Schließlich ein Schnitt: "Aber ich werde es dir ewig nachtragen, dass du mir einfach die Haut am Arm mit deinem blöden Fingernagel aufgeschlitzt hast und ohne mich zu fragen einen auf Blutsbrüderschaft machtest. Das trage ich dir nach bis in die Steinzeit und zurück. Und wenn's denn sein muss, sogar mit Rückfahrkarte bis in die Kreidezeit."
Gundram atmete beim Ton und zuletzt albern gehaltener Wortwahl erleichtert auf. Die leidige Sache schien offenbar weitgehend ausgestanden. Breit grinste er Erfried an. "Warum nicht gleich von Ewigkeit zu Ewigkeit mit Jahresnetzkarte der Bundesbahn bei M&S?"
"Wir wollen's ja nicht übertreiben", grinste Erfried versöhnlich.
"Wohnst du dann jetzt bei mir im Zimmer?" Gundram rückte mutiger geworden näher.
"Ich sagte doch eben: Wir wollen's ja nicht übertreiben!"
"Hab' ich auch sonst was falsch gemacht? Fandest du es eklig oder so? Oder möchtest du eigentlich überhaupt nicht so was?"
"Nö! Wenn ich's mir recht überlege, dann hatten wir beide ziemlich gute Abgänge dabei. Aber deshalb muss ich ja nicht gleich in dein Zimmer ziehen, oder?"
"Wär' doch aber viel praktischer."
"Heimlich in andere Zimmer schleichen, finde ich aber viel spannender."
"Du bist also nicht mehr sauer?"
"Meine Güte, mit meinen Schulkameraden haben wir auch schon ähnliche Veranstaltungen gemacht. Und außerdem habe ich mit einem erwachsenen Freund schon mal..." Erfried verstummte. Siedend heiß fiel ihm Gerd Wesseling und dessen grausiger, einsamer Tod ein.
"Was hast du mit einem erwachsenen Freund schon mal?"
"Na ja... das... Aber der ist jetzt leider tot, der arme Kerl. Der Glanzdieb hat ihn in der Nacht zum Sonntag umgebracht. - Verdammte Scheiße! Ich hatte den Gerd sehr gern..." Erfried schluchzte. "Dass der tot ist, habe ich erst heute nachmittag erfahren. Oh Scheiße! Was für ein verdammter Mist. Der arme Gerd!"
"He, Erf! Das tut mir unheimlich leid. Ich würde gern versuchen, dir deinen toten Freund zu ersetzen. Willst du?" Mitfühlend legte Gundram tröstend den Arm um ihn.